Im Kontext der aktuellen Weltlage („Poly-Krise“) hat mich eine Redakteurin der Fachschaftszeitung „BlackBox“ (Emelie Lenze, EL) um ein Interview gebeten. Das Interview erscheint Ende des Wintersemesters, also Februar 2024. Angesichts der Aktualität des Themas habe ich – mit ihrem Einverständnis – eine Vorabveröffentlichung hier im Blog vorgenommen. Nachfolgend finden sich ihre Fragen und meine Antworten:
EL: Wie kam die Idee zu dem Buch „Krieg, Konflikt und Solidarität“ und ganz spezifisch zu ihrem Kapitel „Krieg als schlechte Form der Problemlösung“ zustande?
JF: Der am 24.2.22 begonnene Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat unser Jahrbuch-Thema „Krieg, Konflikt und Solidarität“ (und auch mein Kapitel darin) natürlich bedingt. Mir war der Zusatz „Solidarität“ im Buchtitel wichtig, zeigt dieses Attribut doch auch eine positive Seite im Vergleich zur negativen Seite der menschlichen Aggression. Mein eigenes Kapitel musste sich dem Thema natürlich aus der Perspektive des Problemlösens widmen.
EL: Wie geht es Ihnen mit der aktuellen Weltlage? Wie gehen Sie ganz persönlich mit so erschreckenden Nachrichten, die uns gerade täglich erreichen, um?
JF: Mich bedrückt und entsetzt die tägliche Nachrichtenlage einerseits, andererseits sehe ich zahlreiche diplomatische und politische Lösungsversuche, die mir gefallen und in die ich Hoffnung investiere. Ich allein kann die Krisen der Welt nicht verändern, aber ich kann in meinem kleinen Wirkungskreis dafür sorgen, dass Konflikte nicht hochkochen und gute Umgangsformen gewahrt werden. Ansonsten versuche ich so gut es geht „mein Ding zu machen“, also meine Aufgaben zu erledigen – es hilft ja nichts sich zu verweigern. Es soll ja sogar ein neues Störungsbild geben namens „News Fatigue“ (Nachrichtenmüdigkeit) – daran leide ich nicht. Es hilft nicht, die Augen zuzumachen, das hat schon als Kind beim Verstecken nicht geholfen.
EL: Und trotzdem leiden ja anscheinend eine erhebliche Zahl an Menschen an “News Fatigue”, was bis ins “News Burnout” führen kann, welches dann das Ende von Nachrichtenkonsum bedeutet. Oder da fällt mir auch der sogenannte “Weltschmerz” ein, ein Phänomen, bei dem Personen durch Krisen in der Welt niedergeschlagen und hoffnungslos werden. Und auch den Impuls bei Kindern finde ich ein gutes Beispiel. Es bringt offensichtlich nichts die Gefahr auszublenden oder das Erstarren/ Freezing (wie im Tierreich ja sogar erfolgreich) als Fluchtmethode anzuwenden. Trotzdem wählen Kinder, Erwachsene und Tiere diese Methode anscheinend reflexartig? Wie kommt das?
JF: Ja, es ist eine Strategie und Schutzmassnahme, die Personen wählen, die sich aber als Fehlschluss herausstellt. Der Glaube des Kindes, mit geschlossenen Augen sähe ein anderer auch einen selbst nicht mehr, ist schlussendlich eine Illusion. Eine Illusion, die im ersten Moment aber auch sinnvoll sein kann und als Selbstschutz dient, um sich vor den schweren Konsequenzen und vielleicht überwältigenden Emotionen zu schützen. Im ersten Moment funktioniert das, im zweiten wird es aber schwierig, denn wenn alle Menschen diese Methode nutzen, würden die Probleme der Welt ignoriert werden und sich immer weiter verschlimmern.
EL: Als einzelne Person hier in Deutschland erlebe auch ich häufig ein Gefühl der Ohnmacht und der Hilflosigkeit. Was können wir dennoch als einzelne Personen hier und heute tun?
JF: Als Einzelperson sind wir tatsächlich ohnmächtig und hilflos gegenüber den Mächtigen, die die Entscheidungen treffen. Ich träume manchmal vom Tyrannenmord… Wenn wir uns in Solidarität mit Anderen üben, mit unseren Mitmenschen, wird das schon gleich besser – nicht unbedingt anders.
EL: Da fällt mir ein anderer Ansatz, über den ich mal gestolpert bin, ein. Die drei As. Akzeptanz, Aktivismus und Achtsamer Konsum. Gerade die Akzeptanz, dass die Weltlage so ist wie sie ist, ermöglicht uns erst etwas zu tun und aktiv zu werden. Und natürlich können wir darauf achten, was und in welchen Mengen wir Nachrichten konsumieren.
JF: Ja, das passt gut!
EL: Inwiefern ist der Israeli-Palästinenser Krieg ein komplexes Problem?
JF: Der jetzt seit dem Überfall der Hamas am 7.10.2023 aktuelle Krieg zwischen Israelis und Palästinensern hat eine lange Vorgeschichte und viele gescheiterte Lösungsversuche. Von daher ist klar, dass hier kein einfaches Problem vorliegt. Die Kriterien eines komplexen Problems (Komplexität, Vernetztheit, Intransparenz, Dynamik, und Vielzieligkeit) passen hervorragend auf die aktuelle Situation. Diese Anwendung passt also hervorragend.
EL: Ja das fand ich auch unglaublich zutreffend beim Lesen des Buches. Komplexe, Jahrhunderte lange Entwicklungen und Konflikte, unglaublich viele beteiligte Parteien, ein nach außen hin undurchsichtiges Verhandeln und Vorgehen, Veränderung der Lage im Stundentakt und gerade der letzte Punkt ist glaube ich entscheidend für das Scheitern einer Lösungsfindung: Polytelie, die Vielzieligkeit. Manche Personen möchten Frieden, manche Rache, manche einen gerechten Ausgleich, was eigentlich wieder Rache ist, manche möchten einen Staat, manche möchten zwei, manche möchten das Land für sich und andere eben auch. Ohne ein gemeinsames Ziel, wird eine gemeinsame Lösung unmöglich.
JF: Dem kann ich nur zustimmen.
EL: Inwiefern scheitern Verhandlungen durch Fehler im Problemlöseprozess nach Dörner und Güss?
JF: Die Liste der Fehler beim komplexen Problemlösen gemäss Dörner und Güss (2022) soll uns daran erinnern, dass Fehler in Verhandlungen fast unvermeidlich sind. Genauso, wie wir verschiedenen Biases unterliegen, machen wir auch beim Lösen komplexer Probleme immer wieder ähnliche Fehler. Die Hoffnung ist natürlich, dass bei Kenntnis der entsprechenden Fehlermöglichkeiten diese vermieden werden können – vermutlich eine Illusion. Was mir gut gefallen hat, ist das Phasenmodell der Verhandlungsführung von Hüffmeier und Hertel (2012).
EL: Ich finde auch: das Modell erschafft einen unglaublich guten Verhandlungsrahmen, in der erstmal alle Beteiligten gesehen werden. Gerade diese gegenseitige Toleranz und das Zuhören der anderen Partei, ist meiner Meinung nach etwas, was wir unbedingt in Verhandlungen brauchen. Dieses Phasenmodell umfasst vier Schritte: Vorbereitung, Lösungsraum bestimmen, Forderungen einbringen und Abschluss. In der Vorbereitung wird eine BATNA – die „best alternative to a negiotated agreement“ -.generiert… Was wäre in diesem Fall die BATNA? Gibt es da überhaupt schon etwas wie eine Notfalllösung? Alle Lösungen scheinen ja im Moment unmöglich.
JF: Wir sind in diesem Fall ja keine Verhandlungspartner, sondern eher Zuschauer, Konfliktlöser. Eine BATNA zu generieren ist eine Aufgabe der beteiligten Parteien. Das wäre schonmal ein erster Schritt, um in eine Verhandlung zu treten. Aber an diesem Punkt sind wir wohl noch nicht. Die Parteien scheinen sich auch über die mindesten Forderungen und die im geringsten Fall akzeptierbare Lösung noch keinen Gedanken gemacht zu haben.
EL: Wie könnte man es besser machen? Haben Sie Ideen?
JF: Wenn es so einfach wäre und ich eine Lösung hätte, säße ich nicht mehr hier. Viele Köche haben schon versucht, den Brei verträglich zu machen und sind gescheitert. Ich schreibe meine Ideen auf, vielleicht bewirkt das ja etwas Positives. so wie dieses Interview hier.
EL: Das wäre auf jeden Fall etwas, was wir uns wünschen würden. Aktiv werden ist auf jeden Fall auch meine Strategie, die mich wahrscheinlich auch gegen “New Fatigue” und “Weltschmerz” schützt.
JF: Unbedingt!
EL: Wie würden Sie Rache definieren? Und inwiefern spielt Rache in diesem Konflikt eine Rolle?
JF: Rache bedeutet, einen Ausgleich zu fordern für ein vorher erlittenes Unrecht. Rache ist ein zutiefst menschliches Gefühl (kennen Tiere eigentlich Rache?). Schon in der Bibel heißt es „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Aber die Geschichte der Zivilisation ist auch eine Geschichte der Unrechtbewältigung und Konfliktlösung mittels anderer Methoden als der Gewalt.
EL: Ein paar Recherchen von mir haben ergeben, dass Schimpansen, wenn ihnen das Essen von einem anderen Schimpansen geklaut werden will, den Beutezug des Gegenübers deutlich häufiger verhindern, als wenn menschliche Versuchsleiter das Essen unfair zugunsten des anderen Schimpansen verteilen. Es scheint also etwas ähnliches wie Rache zugeben, wenn ein anderes Tier sich unfair gegenüber einem selbst verhält. So etwas wie Rache scheint also schon im Tierreich verankert zu sein, ob wir aber wirklich von einem menschlichen Konzept von Rache sprechen, bleibt unklar.
JF: Danke für die Recherchen! Wir sollten uns allerdings fragen, ob das bei Schimpansen dokumentierte Verhalten mit unserem menschlichen Erleben vergleichbar ist. Sie sind da ja auch skeptisch. Thomas Nagel hat in einem berühmt gewordenen Aufsatz von 1974 die Frage gestellt (und beantwortet): „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ – wir werden es nie wissen…
EL: Das Thema Israel/Palästina ist ja durchaus heikel und wir probieren so gut es geht eine neutrale Haltung in unserer Zeitschrift zu bewahren. Als Dozent, Autor und Wissenschaftler haben Sie ja mehr Erfahrung mit diesem Befangen. Wie geht es Ihnen damit sich zu umstrittenen Themen zu äußern, wenn Sie wissen, dass Menschen kritisch reagieren könnten oder es sogar zu beruflichen Konsequenzen kommen kann?
JF: Bei Verstößen gegen die Menschlichkeit hört für mich die Neutralität auf – Unrecht muss man anprangern! Neutrales Schweigen hilft nicht. Das bedeutet nicht zwangsläufig, sich auf eine der beiden Seiten zu stellen. Ich denke, man muss sich auf die Seite der Menschlichkeit stellen. Deswegen blogge ich auch gerne und bin ein Freund des „investigativen Journalismus“, der mir für eine Demokratie lebenswichtig erscheint. Transparenz herzustellen ist eine wichtige Aufgabe für die Wissenschaft – wir nennen das „kritisches Denken“, sich nichts vormachen zu lassen.
EL: Hat sich diesbezüglich ihre Meinung und ihre Herangehensweise im Laufe der Zeit geändert?
JF: Eigentlich nicht – Ich habe schon immer versucht, meine Meinung zu äußern. Als junger Student wurde ich aus der Schweiz ausgewiesen (ich habe in Basel studiert, da ich in Deutschland wegen schlechtem Abi-Schnitt keinen Studienplatz bekam), weil ich mich in inner-kantonale Angelegenheiten (die Besetzung des langjährig vakanten Lehrstuhls von Hans Kunz) eingemischt hätte und das als Ausländer nicht durfte. Es hat mir offensichtlich nicht geschadet. Auch als Sprecher im Akademischen Senat unserer Uni von 2010 bis 2019 habe ich mir manchmal die Finger verbrannt. Die Verweigerung einer Senior-Professur durch den alten Rektor war ein Preis, den ich zahlen musste. Auch das hat mir letztendlich nicht geschadet.
EL: Kleine persönliche Einbußen und vermeintliche Rückschläge in Kauf nehmen, um sich und der eigenen Meinung treu zu bleiben und am Ende mehr daraus zu ziehen, das finde ich einen bestärkenden Gedanken.
JF: Prima!
EL: Haben Sie Wünsche für Diskurs und die Darstellung von Meinungen, wenn Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zusammenkommen?
JF: Wichtig ist für mich: Respekt voreinander, Toleranz und gegenseitige Wertschätzung – wir sind alle Menschen und sollten alle mit Würde behandelt werden! Ich bin ein Fan der universellen Menschenrechte! Freiheit ist Freiheit der Andersdenkenden (so Rosa Luxemburg). Bei mir im Rheinland heißt es: „jeder Jeck ist anders“. Das finde ich ein ganz schönes Lebensmotto. Und an der Universität sollten wir allesamt „Wahrheitssuchende“ (so Karl Jaspers) sein, unabhängig von unserer Religion, Herkunft oder Weltanschauung. An diesem Ideal sollten wir uns orientieren. – Apropos Würde: Wir finden übrigens auch tolle Ideen im Grundgesetz, Artikel 1 (ich bin ja schon immer ein Fan des Grundgesetzes gewesen): “Die Würde des Menschen ist unantastbar”. Dieser Paragraph ist direkt nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und sollte die Menschen daran erinnern, dass so etwas (der Holocaust) nie wieder passieren darf. Die Würde jedes Menschen, egal welcher Religion oder Nationalität, ist unantastbar. Ein Motto, dass wieder mehr gelebt werden darf. Und es heisst explizit Würde, aber nicht Wert (Stichwort „unwertes Leben“)! Um es ganz klar zu sagen: Antisemitismus hat an unserer Hochschule nichts verloren!
EL: Da kann ich nur zustimmen! Das Zitat “Die Menschheit zur Freiheit bringen, heißt sie zum miteinander reden bringen” von Jaspers, passt da auch noch ausgezeichnet. Danke, dass wir heute so frei miteinander reden konnten. Ich habe viele spannende Denkanstöße mitnehmen können und hoffe das konnten wir unseren Lesern auch ermöglichen.
JF: Ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche uns eine friedlichere Zeit!
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