Psychologie im Grundgesetz

In diesen Tagen – am 23.5.2009 – feiert das Grundgesetz der BRD 60jähriges Jubiläum (hier die Feier im Bundestag)! Unsere Verfassung ist eine, auf die ich stolz bin und für die ich ihren Müttern und Vätern dankbar bin!

Die in den ersten 19 Paragrafen festgehaltenen Grundrechte sind sehr klug gewählt und haben ganz klar nach meinem Dafürhalten auch einen psychologischen Gehalt. Zum Geburtstag des GG will ich das kurz erläutern, indem ich die ersten 19 Artikel – diese stellen die Grundrechte dar – kommentiere.

Artikel 1: Menschenwürde, Menschenrechte, Gewaltenteilung

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Geregelt wird in diesem ersten und damit wichtigsten Paragrafen das Grundrecht der Menschenwürde, das Bekenntnis des Volkes zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten sowie die unmittelbare Geltung der nachfolgenden Grundrechte für die drei Staatsgewalten: Legislative, Exekutive und Judikative.

Was steckt hier an Psychologie drin? Vor allem natürlich die Menschenwürde, die hier angesprochen wird! Die Selbstachtung von Menschen gegenüber sich selbst und der Wert des Menschen im Kontakt miteinander als Humanum, dem eine Würde zukommt: eine Würde, für die man nichts tun muss außer Mensch zu sein (was im Unterschied zum Tiersein bedeutet: seiner Vernunft und seinem Verstand zu folgen). Dieses Grundprinzip des Respekts vor sich selbst und desjenigen gegenüber anderen Personen bildet die Grundlage jeder humanistischen Therapie, ist Grundlage für ein ethisches Handeln von Psychologen.

Dass die Menschenrechte als unverletzlich und unveräußerlich bezeichnet werden, ist ebenfalls toll: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ waren die Menschenrechte der französischen Revolution, der Geburtsstunde der Demokratie. Auch wenn die moderne Neurowissenschaft Zweifel an der Willensfreiheit äußert: Die Gedanken sind frei! Und dass wir einen freien Willen haben, demonstrieren wir überall dort, wo wir beispielsweise mit Zivilcourage gegen Verfassungsfeinde auftreten, selbst wenn wir dabei eine Schlägerei riskieren.

Außerdem steckt hier eine Antwort zur Frage: Wie sollte man mit Macht umgehen? Das Prinzip heißt „Checks and Balances“, wechselseitige Kontrolle sowie Trennung der Gewalten. Wenn man den Machtmissbrauch in undemokratischen Staaten sieht, ist diese Teilung ein exzellenter Schachzug, um die Verführungen der Macht zu begrenzen.

Artikel 2: Allgemeines Persönlichkeitsrecht

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Hier freut sich nicht nur der Persönlichkeitspsychologe, sondern auch die Entwicklungspsychologie: „Jeder Jeck is anners“ und darf sich zudem entfalten wie er oder sie will. Freiheit der Person: das lässt jedem den Spielraum, den er oder sie braucht, um aus seinem Leben etwas zu machen. Mit dieser Freiheit ist natürlich auch die Verantwortung verbunden, dieses Gut sinnvoll zu nutzen. Psychologie hilft in Form von Coachings (oder Therapie), dieser Freiheit Raum zu verschaffen, wenn dies der einzelnen Person nicht gelingt.

Artikel 3: Gleichheitsgrundsatz

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Alle Menschen sind gleich: Das ist das Fundamentalbekenntnis der Demokratie! Meine Stimme zählt nicht mehr oder weniger als die eines anderen. Die Herkunft eines Menschen wird damit in ihrer Rolle zurückgedrängt. Umso beschämender, wenn Deutschland nach PISA-Studien nach wie vor dasjenige Land ist, das in seinem Schulsystem am stärksten nach Herkunft differenziert und die grundgesetzlich propagierte Gleichheit damit zumindest im Bereich der schulischen Bildung in Frage stellt.

Gleichheit aller Menschen schließt ein die Gleichheit von Männern und Frauen: hier wird sie gefordert und festgeschrieben! Dass sie faktisch an vielen Stellen nicht gegeben ist, weiß nicht nur die Genderpsychologie. Ob uns evolutionspsychologische Überlegungen über unterschiedliche Interessenlagen der beiden Geschlechter (etwa in bezug auf die unterschiedliche Herleitung von Eifersucht) hier weiterhelfen, scheint fraglich zu sein. Der Gesetzgeber hat hier jedenfalls dem Normativen den Vorrang vor dem Faktischen gegeben.

Artikel 4: Glaubens- und Gewissensfreiheit

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. (3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

Ein hohes Lied auf die Toleranz gegenüber Andersdenkenden! Und ein besonderer Schutz von Wertesystemen und Überzeugungen, der hier gewährt wird! Besonders herausgestellt wird die Tatsache, dass niemand zum Kriegsdienst gezwungen werden darf – eine bittere Lektion, die im Zweiten Weltkrieg gelernt wurde.

Wie schwer es ist, tolerant gegenüber Andersdenkenden zu sein, kann man jeden Tag in der Zeitung lesen: Andersdenkende Minoritäten haben einen schweren Stand. Merkwürdigerweise gibt es aber auch viele Hinweise darauf, dass multikulturelle Gemeinschaften friedlich zusammenleben können und daraus sogar kreativen Nutzen ziehen können. Hier ist die Sozialpsychologie gefordert herauszufinden, warum in einem Fall der Andersdenkende diskreditiert und im anderen Fall als kreativer Anreger geschätzt wird.

Dass es bis heute keine gut verankerte empirische Religionspsychologie gibt, sei nur im Nebensatz angemerkt. Hier steht ein großer Themenbereich zur weiteren Erforschung an.

Artikel 5: Meinungsfreiheit

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

Das ist natürlich eine der Sicherungen eines demokratischen Systems: Unabhängige Presse, die investigativen Journalismus betreiben kann, und das Recht der Meinungsfreiheit – insbesondere toll natürlich der Teil, der Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre unter den besonderen Schutz stellt und uns damit alle Freiheit dieser Welt einräumt, die Themen zu bearbeiten – in Lehre wie in Forschung -, die uns interessant und wichtig erscheinen.

Als Liebhaber des Satiremagazins Titanic bekomme ich auch mit, wie schwer es ist, die Grenzen des guten Geschmacks zu definieren. Wann die Grenzen der Meinungsfreiheit erreicht sind, ist schwer zu sagen – und der Streit um die Mohammed-Karikaturen hat gezeigt, dass hier sogar internationale Konflikte drohen können, weil dieses Recht längst nicht in jedem Land verankert ist.

George Orwell hat die Idee der Gedanken- und damit der Meinungskontrolle sehr deutlich attackiert („1984“), die hier ausdrücklich verboten wird. Auch das Recht, sich ungehindert aus zugänglichen Quellen Informationen zu beschaffen, ist wichtig zur Beseitigung von Intransparenz.

Artikel 6: Ehe, Familie, Kinder

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Der hier beschriebene besondere Schutz der Ehe hat als Schattenseite die Diskrimination nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften nach sich gezogen. Dass der Staat die Monogamie als Lebensform propagiert, muss man wohl tolerieren – dass die heterosexuelle Monogamie damit gemeint war (und nicht die homosexuelle), steht hier übrigens nicht explizit!

Artikel 7: Schulwesen

(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. (2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. (4) Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist. (5) Eine private Volksschule ist nur zuzulassen, wenn die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt oder, auf Antrag von Erziehungsberechtigten, wenn sie als Gemeinschaftsschule, als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule errichtet werden soll und eine öffentliche Volksschule dieser Art in der Gemeinde nicht besteht. (6) Vorschulen bleiben aufgehoben.

Vielleicht ein Thema für die Pädagogische Psychologie? Auf jeden Fall super, dass der Staat hier die Kontrolle über die Schule übernimmt und dies nicht völlig ungeregelt Privaten überlässt. Das Einhalten von Mindeststandards (und insbesondere natürlich die Ausbildung zum Demokraten) darf nicht in Frage gestellt werden.

Artikel 8: Versammlungsfreiheit

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Absolut top: Hier wird der Mensch als soziales Wesen angesehen, der sich mit anderen zusammentun und seine Interessen wahren kann. Versammlungsfreiheit unter freiem Himmel: ein gutes Konzept, das bei Streiks und Demonstrationen genutzt wird und damit eine politische Äußerungsform darstellt.

Artikel 9:  Vereinsfreiheit

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten. (3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.

Wie zuvor: Nur diesmal richtig mit Verein! Insbesondere werden hier natürlich Gewerkschaften angesprochen, die sich historisch als starker Arm gegen der Arbeitgeber erwiesen haben.

Artikel 10: Briefgeheimnis; Post- und Fernmeldegeheimnis

(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. (2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, dass sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und dass an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.

Auch dies ein wichtiger Schutz der Privatsphäre! Für die persönliche Identität ist es ganz wichtig, Geheimnisse vor anderen haben zu dürfen und nicht alles an die Öffentlichkeit tragen zu müssen.

Artikel 11: Grundrechte der Freizügigkeit

(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. (2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist.

Die Mobilität von Menschen: ein hohes Gut! Nicht erst durch die Reisebeschränkungen der ehemaligen DDR ist diesem Menschenrecht besondere Aufmerksamkeit zugekommen. Sich seine Umwelt frei aussuchen zu können ist Teil der Anpassungsleistung von Menschen und damit Teil ihrer Intelligenz. Die Reisefreiheit wird erst dann so richtig spürbar, wenn man sie mit den Bedingungen eingeschränkter Reisen (wie in der früheren DDR) vergleicht. Ein so selbstverständliches Grundrecht für uns, die wir es im Westen in den letzten 60 Jahren gehabt haben.

Artikel 12: Freie Wahl des Arbeitsplatzes

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. (2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. (3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.

Dem Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes steht keine Pflicht zur Arbeit zur Seite – im Gegenteil: es gilt das Verbot von Zwangsarbeit! Dass Arbeit ein wichtiger Faktor des menschlichen Lebens ist, weiß die Arbeitspsychologie noch besser: Arbeitslosigkeit geht häufig mit erhöhten psychischen Problemen einher.

Artikel 12a: Wehrpflicht und Ersatzdienst

(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden. (2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muss, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht. (3) Wehrpflichtige, die nicht zu einem Dienst nach Absatz 1 oder 2 herangezogen sind, können im Verteidigungsfall durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden; Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind nur zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben oder solcher hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die nur in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erfüllt werden können, zulässig. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen. (4) Kann im Verteidigungsfall der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden. (5) Für die Zeit vor dem Verteidigungsfall können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Artikels 80a Abs. 1 begründet werden. Zur Vorbereitung auf Dienstleistungen nach Absatz 3, für die besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden. Satz 1 findet insoweit keine Anwendung. (6) Kann im Verteidigungsfall der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Vor Eintritt des Verteidigungsfalles gilt Absatz 5 Satz 1 entsprechend.

Tja, diesen Passus haben die Mütter und Väter des GG unter dem Eindruck des schrecklichen Krieges verfasst – wenigstens haben sie das Recht zur Kriegsdienstverweigerung explizit festgehalten! Der mehrfach genannte „Verteidigungsfall“ ist Gott sei Dank nicht eingetreten.

Artikel 13: Unverletzlichkeit der Wohnung

(1) Die Wohnung ist unverletzlich. (2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. (3) Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß jemand eine durch Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, so dürfen zur Verfolgung der Tat auf Grund richterlicher Anordnung technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen der Beschuldigte sich vermutlich aufhält, eingesetzt werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Die Maßnahme ist zu befristen. Die Anordnung erfolgt durch einen mit drei Richtern besetzten Spruchkörper. Bei Gefahr im Verzuge kann sie auch durch einen einzelnen Richter getroffen werden. (4) Zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, dürfen technische Mittel zur Überwachung von Wohnungen nur auf Grund richterlicher Anordnung eingesetzt werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch eine andere gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. (5) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme durch eine gesetzlich bestimmte Stelle angeordnet werden. Eine anderweitige Verwertung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zum Zwecke der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr und nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme richterlich festgestellt ist; bei Gefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. (6) Die Bundesregierung unterrichtet den Bundestag jährlich über den nach Absatz 3 sowie über den im Zuständigkeitsbereich des Bundes nach Absatz 4 und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 5 erfolgten Einsatz technischer Mittel. Ein vom Bundestag gewähltes Gremium übt auf der Grundlage dieses Berichts die parlamentarische Kontrolle aus. Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle. (7) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden.

Ein langer Artikel – dabei wird sehr genau darüber geredet, unter welchen besonderen (seltenen) Bedingungen dieses Grundrecht auf Unverletzlichkeit der eigenen Wohnung in Frage gestellt werden darf – wann also die eigenen vier Wände nicht mehr alles abschirmen. Die Privatsphäre erweist sich als schützenswerter Rückzugsraum vor anderen Menschen – auch hier wieder das private Leben, an dem man nicht jeden teilhaben lassen muss.

Artikel 14: Eigentum – Schutz und soziale Verpflichtung

(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfall der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.

Wunderbar! Hier ist die Wurzel des Sozialstaats: Das Eigentum wird geschützt, aber gleichzeitig wird es in die Pflicht genommen und soll dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Diese Sätze muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – würden sie doch nur so gelebt! Eigentum bedeutet gerade nicht uneingeschränkte Privatisierung von Gewinnen, sondern das Teilhabenlassen anderer am eigenen Besitz. Mäzenaten erfüllen die hier angesprochene Verpflichtung in vorbildlicher Weise. Gerade hier in Heidelberg haben wir solche Personen, die aus ihrer wahrgenommenen sozialen Verpflichtung heraus Gutes tun und z.B. die Wissenschaft fördern.

Artikel 15: Vergesellschaftung

Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Absatz 3 Satz 3 und 4 entsprechend.

Interessant: Unter bestimmten Bedingungen (und natürlich gegen Entschädigung) können Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel enteignet werden! Klopft da der Sozialismus an?

Artikel 16: Staatsangehörigkeit

(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. (2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.

Einmal Deutscher, immer Deutscher (es sei denn, ich will nicht mehr). Keine Auslieferung bedeutet auch, dem hiesigen Rechtsstaat unterworfen zu sein und nicht Ländern mit anderer Gesetzgebung überstellt zu werden (um z.B. „rechtmäßig“ zu foltern).

Artikel 16a: Asylrecht

(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden. (3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, dass ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, dass er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird. (4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen. (5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.

Auch hier ein Menschenrecht, das Leben retten kann! Ein Staat, der andere Menschen aufnimmt, die aus politischen oder religiösen Gründen mit dem Tod bedroht werden, zeigt hier seine Großzügigkeit in der Unterstützung und im Schutz von – politisch und religiös motiviert – Verfolgten.

Artikel 17: Beschwerderecht

Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.

Ist das nicht Qualitätsmanagement? Man darf sich beschweren (man muss es nicht)!

Artikel 17a

(1) Gesetze über Wehrdienst und Ersatzdienst können bestimmen, daß für die Angehörigen der Streitkräfte und des Ersatzdienstes während der Zeit des Wehr- oder Ersatzdienstes das Grundrecht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 erster Halbsatz), das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Artikel 8) und das Petitionsrecht (Artikel 17), soweit es das Recht gewährt, Bitten oder Beschwerden in Gemeinschaft mit anderen vorzubringen, eingeschränkt werden. (2) Gesetze, die der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung dienen, können bestimmen, dass die Grundrechte der Freizügigkeit (Artikel 11) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13) eingeschränkt werden.

Kein Kommentar, da ich nicht genau weiß, was das soll – außer dass während der Zeit des Wehr- oder Ersatzdienstes Grundrechte eingeschränkt werden dürfen. Warum eigentlich?

Artikel 18: Verwirken der Grundrechte

Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Absatz 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Absatz 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.

Keine Toleranz den Intoleranten gegenüber! Die FDGO lässt alles zu, außer dem Infragestellen der FDGO! Super gemacht! So sägen wir nicht den Ast ab, auf dem wir sitzen!

Artikel 19

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muss das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muss das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. (2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. (3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. (4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

Klingt so ein bisschen nach Universalklausel, die ich schon in vielen Verträgen gelesen habe: Ist ein Paragraf fehlerhaft, reißt es nicht automatisch andere mit in den Abgrund („salvatorische Klausel„). Vermutlich viel wichtiger ist das Einräumen des Rechtswegs für diejenigen, die sich durch öffentliche Gewalt in ihren Rechten verletzt sehen. Die Möglichkeit, gegen Einschränkungen der Grundrechte durch die Staatsmacht Widerspruch einzulegen und den Vorgang von einem unabhängigen Gericht prüfen zu lassen, ist sicher ein fundamentales Prinzip des Rechtsstaats, auf das wir nicht verzichten können.

Kritik? Ja, gibt es auch. Nach der Wiedervereinigung 1990 stand die Frage im Raum, ob nach dem Ende der DDR nicht eine neue (gemeinsame) Verfassung geschrieben werden sollte – das ist nicht geschehen. Hat man bestimmte „gute“ Regelungen aus der DDR-Verfassung übernommen? Ja, in Bezug auf Gleichstellung der Frau (GG Artikel 3 Satz 2) und Schutz der Natur (GG Artikel 20a) ist unsere Verfassung von der „Gemeinsamen Verfassungskommission“ abgeändert worden. Geregor Gysi („Die Linke“) hat kritsiiert, dass die westdeutsche Verfassung zwar die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiere, aber eben kein Recht auf eine Wohnung.

Alles in allem: ein tolles Grundgesetz mit fundamentalen Prinzipien, über deren Festlegung ich mich als Psychologe freuen kann! Möge dem Grundgesetz ein hohes Lebensalter beschieden sein!

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