Eines der drängenden Probleme unserer Zeit ist der Klimawandel. Zu diesem Thema gab es lange Zeit ernüchternde Botschaften aus den USA, wo Forschungen von John Sterman (MIT) zu zeigen meinten, dass selbst gut ausgebildete MIT-Studierende nicht in der Lage wären, die komplizierten Verhältnisse von CO2-Zuwachsraten und CO2-Abbauraten zu verstehen (siehe z.B. den Artikel von Cronin, M. A., Gonzalez, C., & Sterman, J. D. (2009). Why don’t well-educated adults understand accumulation? A challenge to researchers, educators, and citizens. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 108(1), 116–130. doi:10.1016/j.obhdp.2008.03.003). Fast eine Erleichterung für einen selbst, wenn schon hochqualifizierte Personen keinen Durchblick haben, oder?
Doch schon im Jahr 2015 erschien ein Artikel von Helen Fischer, Christina Degen und mir (siehe hier: Fischer, H., Degen, C., & Funke, J. (2015). Improving stock-flow reasoning with verbal formats. Simulation & Gaming. doi:10.1177/1046878114565058 – Siehe auch: Fischer, H., & Gonzalez, C. (2015). Making sense of dynamic systems: How our understanding of stocks and flows depends on a global perspective. Cognitive Science. doi:10.1111/cogs.12239), der Zweifel an dieser Darstellung nährte (siehe auch meinen damaligen Blog-Beitrag).
Nun ist das Thema noch viel grundsätzlicher aufgerollt worden. Kurt Stocker (Universität Zürich) und ich haben einen neuen Beitrag zu diesem Thema geleistet. In dem kürzlich erschienenen Artikel mit dem Titel „How we conceptualize climate change: Revealing the force-dynamic structure underlying stock-flow reasoning“ schildern wir eine allgemeine Schreibweise (eine „Syntax“) für alle möglichen „Flüsse“ (Stock-Flow = Zu- und Abflüsse, wie sie z.B. erfolgen auf Konten durch Ein- und Auszahlungen, in Badewannen durch Zu- und Abflüsse, beim Körpergewicht durch Nahrungsaufnahme und Energieverbrauch). Viele Systeme in der Natur werden im Gleichgewicht gehalten durch entsprechende Zu- und Abflüsse. Wenn die Balance zwischen In-Flow und Out-Flow gestört ist, geraten Systeme ausser Kontrolle (beim Konto: Insolvenz; beim Körpergewicht: Über- oder Untergewicht; bei Badewannen: entweder Überschwemmung oder vorschnelle Leerung; beim Klima: Abkühlung oder Erwärmung).
Das grundlegende Beschreibungssystem der elementaren Kraft-Dynamik, das wir verwenden, ist die von Kurt Stocker weiterentwickelte Theorie des amerikanischen Linguisten Leonard Talmy über Ursache-Wirkungs-Begrifflichkeiten (siehe hier: Stocker, K. (2014). The elements of cause and effect. International Journal of Cognitive Linguistics, 5(2), 121–145). Linguisten sind sehr gründlich und schauen sehr genau hin, weil winzige Kleinigkeiten in der Sprache große Unterschiede ausmachen können – Linguisten sind Spezialisten für das Verstehen. Das ist das Thema unserer Arbeit.
Die zentralen Bausteine für das Verständnis solcher Flüsse, wie sie gerade beispielhaft benannt wurden, lassen sich in Kurzform an einer Abbildung zum CO2-Gehalt der Atmosphäre beschreiben (im Artikel sind wir etwas genauer…). Diese Abbildung sieht wie folgt aus (Anklicken zum Vergrößern):
Sie zeigt symbolisch die Atmosphäre mit einem gestrichelt eingezeichneten CO2-Level, der durch CO2-IN erhöht werden kann (z.B. durch das Verbrennen fossiler Brennstoffe) und durch CO2-OUT erniedrigt wird (Absorption durch Wälder und Ozeane). Wenn mehr IN als OUT, erhöht sich der Level; wenn mehr OUT als IN, sinkt er; ansonsten bleibt er konstant. Diese einfache Logik ist von jeder Person leicht zu verstehen – man braucht dafür kein Studium.
Was aber wichtig ist: Nur wenn alle Elemente dieses Systems angesprochen und gezeigt werden, ist ein Verständnis solcher Flußdynamiken möglich. In unserem Artikel machen wir deutlich, warum die Teilnehmenden an den Sterman-Experimenten den Klimawandel nicht verstanden hatten: Ihnen wurden wichtige Teile des Systems vorenthalten! Kein Wunder, dass sie es nicht verstanden haben! Somit hat das erstaunliche Ergebnis weniger mit ihrem mangelnden Verständnis des Klimawandels zu tun als vielmehr damit, dass die Experimentatoren unvollständig informiert hatten…
Menschen können also die Prozesse des Klimawandels verstehen – das ist die gute Botschaft! Es bleibt umso mehr die schlechte Botschaft: sie handeln nicht gemäß ihres Wissens! Nachhaltigsdenken ist eben schwer (siehe meine früheren Blog-Beitrag). Aber das ist eine andere Baustelle.
Hier die Zusammenfassung unseres Beitrags:
How people understand the fundamental dynamics of stock and flow (SF) is an important basic theoretical question with many practical applications. Such dynamics can be found, for example, in monitoring one’s own private bank account (income versus expenditures), the state of a birthday party (guests coming versus leaving), or in the context of climate change (CO2 emissions versus absorptions). Understanding these dynamics helps in managing everyday life and in controlling behavior in an appropriate way (e.g., stop expenditures when the balance of a bank account approaches zero) In this paper, we present a universal frame for understanding stock-flow reasoning in terms of the theory of force dynamics. This deep-level analysis is then applied to two different presentation formats of SF tasks in the context of climate change. We can explain why in a coordinate-graphic presentation misunderstandings occur (so called “SF failure”), whereas in a verbal presentation a better understanding is found. We end up with recommendations for presentation formats that we predict will help people to better understand SF dynamics. Better public SF understanding might in turn also enhance corresponding public action – such as enancing pro-environmental actions in relation to climate change.
Und hier die Quellenangabe (open access, d.h. ohne Bezahl-Schranke zugänglich):
Stocker, K, & Funke, J. (2019). How we conceptualize climate change: Revealing the force-dynamic structure underlying stock-flow reasoning. Journal of Dynamic Decision Making, 5, 1. doi: 10.11588/jddm.2019.1.51357