Nachruf auf Daniel Kahneman (1934-2024)

Ich zitiere -leicht geändert/ergänzt- aus The Pioneer Briefing von Gabor Steingart:

Der weltbekannte Psychologe „Daniel Kahneman ist gestern (27.3.2024) im Alter von 90 Jahren gestorben. Der 1934 in Tel Aviv geborene israelisch-amerikanische Psychologe und Verhaltensökonom galt als Popstar der Wirtschaftswissenschaften.

Kahneman studierte zunächst Psychologie und Mathematik an der Hebräischen Universität Jerusalem, bevor er 1961 als Psychologe an der University of California promovierte und danach für 17 Jahre an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrte. Ende der Siebziger zog es Kahneman für die Lehre erneut in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, zunächst als Professor nach British Columbia und von 1986 bis 1994 an die weltbekannte University of California, Berkeley.

Kahneman schaffte es, die wichtigsten Erkenntnisse der Verhaltenspsychologie mit denen der Wirtschaftswissenschaft zu verbinden. Während zum Teil die Rationalität von Entscheidungen – homo oeconomicus – bis heute an den Universitäten gelehrt wird, wurde mit Kahnemans Forschung „das Bauchgefühl“ in den Wirtschaftswissenschaften hoffähig. Er wurde zum intellektuellen Gegenspieler der Chicago-Boys (Milton Friedman: “money matters”) und erklärte in seiner mit Amos Tversky entwickelten prospect theory, dass scheinbar rationale Entscheidungen durch „kognitive Verzerrungen (biases)“ geprägt sind, die insbesondere das Verhalten unter Ungewissheit beeinflussen. Menschen fürchten Verluste mehr, als dass sie durch die Aussicht auf Gewinne zu motivieren sind.

2002 wurde diese Denkleistung mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften [die Psychologie hat keinen eigenen Nobelpreis, aber derjenige für Wirtschaftswissenschaften wurde schon einmal 1978 an einen Psychologen -Herbert A. Simon– vergeben für dessen Konzept der bounded rationality] geehrt – und später dann von vielen anderen Denkern popularisiert. Das ist die tröstliche Botschaft inmitten der traurigen Nachricht: Kahneman ging, sein Denken bleibt.“

Sein 2012 auf Deutsch erschienenes populärwissenschaftliches Buch Schnelles Denken, langsames Denken hat viele Freunde gefunden, mich inklusive. Das darin beschriebene Konzept zweier Systeme (System 1: Schnell, automatisch, immer aktiv, emotional, stereotypisierend, unbewusst; System 2: Langsam, anstrengend, selten aktiv, logisch, berechnend, bewusst) ist vielleicht stark vereinfachend, aber bringt zwei in unserem Denken vorhandene Tendenzen (bewusste und unbewusste) prägnant zum Ausdruck. In meinem Blogbeitrag zum Thema „Bauchgefühl“ beschreibe ich sein Konzept etwas genauer.

Einer meiner Lieblingsartikel von ihm ist dieser hier: Kahneman, D., & Klein, G. (2009). Conditions for intuitive expertise: A failure to disagree. American Psychologist, 64(6), 515–526. https://doi.org/10.1037/a0016755, in dem er das praktiziert, was man adversatorial research (oder auch opposition research) nennt: sich als Vertreter des heuristics and biases-Ansatzes konstruktiv mit einem „Gegner“ austauschen (in seinem Fall mit Gary Klein, einem der Väter des naturalistic decision making, NDM, das Ähnlichkeiten zum komplexen Problemlösen aufweist).

Wir werden Daniel Kahneman vermissen, aber seine Ideen nicht vergessen!

2 Antworten

  1. jofu01 sagt:

    Lieber Jochen, danke für deinen Kommentar! Du hast natürlich völlig recht: die Liste der Nobelpreise, die wir der Psychologie zurechnen können, umfasst mehr als nur Simon und Kahneman. Und wir lassen mal dahingestellt, ob die Vergabe der Nobelpreise tatsächlich ein faires Geschäft ist! Trotzdem freue ich mich natürlich, wenn Ideen aus unserem Fach preislich erscheinen.

  2. Jochen Musch sagt:

    Danke für diesen Nachruf auf einen der Großen des Faches!

    Spannend finde ich die Frage, wie viele Nobelpreise bislang überhaupt für Leistungen im Bereich der Psychologie vergeben wurden. Wenn man großzügig zählt, könnte man vielleicht diese hier alle dazuzählen – wäre das übertrieben? Oder übersehe ich jemanden?

    1904 Iwan Pawlow (Medizin)
    1978 Herbert Simon (Wirtschaft)
    1973 Konrad Lorenz (Medizin)
    2000 Eric Kandel (Medizin)
    2002 Daniel Kahneman (Wirtschaft)
    2011 Tomas Tranströmer (Literatur)
    2014 May-Britt und Edvard Moser (Medizin)
    2017 Richard Thaler (Wirtschaft)

    Sigmund Freud hat nie einen Nobelpreis bekommen, obwohl er 33x für Medizin und 1x für Literatur vorgeschlagen wurde.

    Bei den IgNobel-Preisen sieht die Bilanz für die Psychologie sehr viel besser aus, da komme ich auf 15 Preise in 33 Jahren.

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