Revisited: „Geschichte und Systematik der Psychologie“ von Schönpflug

Vor 22 Jahren habe ich eine Rezension zum damals (2000) neu erschienenen Buch „Geschichte und Systematik der Psychologie. Ein Lehrbuch für das Grundstudium“ von Wolfgang Schönpflug (2000) verfasst – nun ist gerade die vierte überarbeitete Auflage (2024) des inzwischen 87jährigen Autors erschienen. Zeit nachzuschauen, was es Neues gibt.

Rezensionen zu Büchern sind in unserem Fach etwas aus der Mode gekommen (Ausnahmen wie socialnet – mit Rezensionen aus den Bereichen Soziale Arbeit, Pflege und Sozialwirtschaft – bestätigen die Regel…). Ich selbst habe die Textsorte „Rezension“ eine Zeitlang geliebt und einiges an Kritik dort angemeldet. Angefangen hat es in Diskussionen mit dem (vor einigen Jahren leider viel zu früh verstorbenen) Ernst Fay (Mitgründer des ITB Bonn), mit dem ich über damals aktuelle Publikationen im Kontext von Assessments viel gelästert habe. Ernst Fay hatte damals (1995) angefangen mit seiner 5bändigen Buchreihe Tests unter der Lupe, einige Jahre bevor das Testbeurteilungssystem TBK-DTK des Deutschen Testkuratoriums (eine Initiative des Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V., BDP, unter der Federführung von Martin Kersting, Uni Giessen), in systematischer Weise diese Aufgabe übernahm. Die Aufgabe (damals wie heute): eine Art von „peer review“ bei Testverfahren durchzuführen, die zumeist in kommerzieller Absicht (und oft ohne Einhaltung wissenschaftlicher Standards) auf den Markt gebracht wurden. Ich habe damals mit viel Vergnügen die Feder gewetzt. Hier eine Sammlung meiner damaligen Kurztexte:

Fay, E., & Funke, J. (1996). Rezension zu Hermann-Josef Fisseni & Georg Fennekels (1995): Das Assessment-Center. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 40, 215–216.

Funke, J. (1999a). Rezension zu Dietrich Dörner (1999): „Bauplan für eine Seele“. Spektrum der Wissenschaft, 23(9), 104.

Funke, J. (1999b). Rezension zu Doris Möseneder & Johannes Ebenhöh (1996): ILICA. Ein Simulationstest zur Erfassung des Entscheidungsverhaltens. In E. Fay (Hrsg.), Tests unter der Lupe II (S. 61–75). Pabst Science Publishers.

Funke, J. (2000a). Keine Angst vor dem Rückfall! Rezension zu Susanne Wilcken & Michael Rochow (2000): „Rückfallprävention bei Alkoholismus“. Report Psychologie, 25(8), 532.

Funke, J. (2000b). Spannende Geschichte(n)! Rezension zu Wolfgang Schönpflug (2000): „Geschichte und Systematik der Psychologie. Ein Lehrbuch für das Grundstudium“. Report Psychologie, 25, 360.

Reuschenbach, B., & Funke, J. (2000c). Rezension zu Georg Fennekels & Simone D’Souza (1999): Management-Fallstudien (MFA). In E. Fay (Hrsg.), Tests unter der Lupe III (S. 83–112). Pabst Science Publishers.

Funke, J. (2001a). Denken Inder anders? Rezension zu Stefan Strohschneider (2001): „Kultur—Denken—Strategie. Eine indische Suite“. Psychologie Heute, 28(12), 73.

Funke, J. (2001b). Navigationshilfe im Internet? Rezension zu Parfen Laszig & Kathy Rieg (2001): „Internet Guide Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse“. Report Psychologie, 26, 312–313.

Funke, J., & Reuschenbach, B. (2003). Rezension zu Peter Metzler (2000): Standardisierte Link’sche Probe (SLP). In E. Fay (Hrsg.), Tests unter der Lupe IV (S. 124–133). Vandenhoeck & Ruprecht.

Zurück zum Buch von Wolfgang Schönpflug, dessen „Geschichte und Systematik“ mir in seiner 1. Auflage gerade zum richtigen Zeitpunkt kam, als ich Anfang 2000 die Vorlesung zur „Geschichte der Psychologie“ (hier die Folien zur Vorlesung aus dem Jahr 2007) zum ersten Mal halten durfte. Das Buch hatte (und hat) eine tolle Struktur und hörte mit Kapitel 12 „Nach der Moderne“ auf.

Die neue Auflage – der Textseitenumfang ist von 462 auf nur 466 Seiten angestiegen – enthält nun ein Kapitel 13 (Psychologie im Gesundheitswesen) und ein Kapitel 14 (Psychologie in der postmodernen Moderne), dafür ist das alte Kapitel 1 (Psychologie an der Schwelle zum Jahr 2000) entfallen. Die Antike (und andere Ausführungen) sind gestrafft worden. Die neuen Kapitel 13 und 14 thematisieren einerseits die mit dem Psychotherapeutengesetz (PsychTG) von 2020 einhergehenden Reformen, andererseits die mit dem enormen Wachstum des Faches Psychologie verbundene Gefahr seiner Aufteilung in heilkundliche und nicht-heilkundliche Psychologie einher. Zum Schluß ein Zitat: „Dieses Buch stützt sich auf Literatur aus wissenschaftlichen Fachbibliotheken. Die darin erzählte Geschichte ist eine Geschichte von Lehrmeinungen geworden. Man mag die Weisheit dieser Lehrmeinungen bewundern, doch ihre Lebensnähe bezweifeln“ (S. 456).

Bemerkenswert: Das knapp 30seitige Literaturverzeichnis weist über 200 Neu-Einträge mit Erscheinungsdatum 2000 und neuer auf! Da wurde fleissig aktualisiert, Respekt! Ebenfalls hilfreich beim Suchen: das Namens- und das Sachwortverzeichnis.

Der Text (mit 52€ nicht gerade erschwinglich für knappe Börsen) ist wie schon in der ersten Auflage mit zahlreichen schönen Abbildungen illustriert und durch jeweils vorangestellte Zusammenfassungen auch didaktisch gut aufbereitet. Die vier Hauptteile (1: Antike bis Humanismus – 2: 17. und 18. Jahrhundert – 3: 19. Jahrhundert – 4: Moderne und Postmoderne) sind gut gewählt und geben der Geschichte eine Struktur. Ich kann die Lektüre nach wie vor nur empfehlen: informativ und zum Nachdenken anregend!

2 Antworten

  1. jofu01 sagt:

    Vielen lieben Dank für Ihren Kommentar, lieber Herr Schönpflug! Nur eine Nachbemerkung: Ich denke nicht, dass wir „die letzten Mohikaner der Psychologie-Geschichte“ sein werden – jüngere Leute als wir Ältere sind ebenfalls davon überzeugt, dass wir das Heute nur verstehen können, wenn wir das Gestern versucht haben zu verstehen…
    Und noch eine Anmerkung. Ich zitiere aus einer Mail eines guten Freundes, der auf den Blogeintrag (und ihren Kommentar) reagiert hat:
    „Die Lage der wissenschaftlichen Psychologe in Deutschland halte ich inzwischen für wirklich problematisch. Das neue Psychotherapeutengesetz hatte üble Auswirkungen (war [mir] anfangs nicht in der Form absehbar) – es hat die zuvor schon bestehende kritische Lage noch verschärft. Die Banalisierung unseres Faches innerhalb dieses sogenannten Psychotherapiestudiums ist grauenhaft. Wobei ihr Grundlagenleute die schlimmsten Auswüchse gar nicht kennen dürftet. Ein Stichwort private Hochschulen, ein anderes Kommerzialisierung der Aus- und Weiterbildung mit Niveauverflachung im freien Fall nach unten. Die klinischen Lehrstühle wollen es nicht sehen bzw. wahrhaben, das macht es nicht besser.
    Zweiteilung des Fachs in richtige Psychologie und Psychotherapiesumpf wäre die naheliegende Reaktion (von Theo Herrmann vor 30 Jahren schon gefordert). Aber ist es eine Lösung? Schwierig. Man bräuchte ein Forum, in dem man sich gemeinsam Gedanken macht.“
    Interessant, oder?

  2. Schönpflug sagt:

    Vielen Dank für die wohlwollende Besprechung meiner neuen „Geschichte und Systematik“, lieber Herr Funke!
    Das waren noch Zeiten, als die erste Auflage meines Buches erschien und Sie spontan Ihre Rezension „Kein Schnee von gestern“ verfassten. Damals – also 2000 – wurde im Psychologiestudium noch vielerorts Psychologiegeschichte gelehrt, und wir diskutierten, wie man durch die historische Perspektive das Verständnis des Faches fördern kann. Das scheint mir in der Tat inzwischen Schnee von gestern zu sein, dahingeschmolzen unter der gleißenden Sonne des ECTS-Studiums, des zunehmenden Pragmatismus und insbesondere der psychotherapeutischen Anwendung. Das produziert einen Umsatzrückgang für komprehensive Lehrbücher und insbesondere für Lehrbücher der Allgemeinen Psychologie. Umsatzrückgang und gestiegene Herstellungskosten – das ist eine böse Kombination. Ich bin froh, dass der Verlag Beltz mir die Treue gehalten und sogar unheimlich viel Geld für Abbildungen ausgegeben hat. (Bei der ersten Auflage haben wir noch unbeschwert kopiert; inzwischen muss man für alles Rechte erwerben.)
    Also, lieber Herr Funke, sollen Leute wie wir die letzten Mohikaner der Psychologiegeschichte sein? Oder sollen wir an eine Renaissance der Psychologiegeschichte in der Psychologie glauben? Oder sollen wir hoffen, dass Wissenschaftliche Psychologie, wenn sie sich wieder von der Psychotherapie emanzipiert hat, (meine Lieblingsidee einer Zweiteilung der gegenwärtigen Psychologie, die Sie nicht teilen, lieber Herr Funke) mit interdisziplinärer Ausrichtung zu neuer historischer (und methodologischer) Besinnung aufschwingt?
    So viel für heute mit Grüßen
    von Wolfgang Schönpflug

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