Am 28.7.23 ist Gerd Jüttemann nach längerer Krankheit verstorben. Ich hatte ein paar Mal mit ihm wegen der Angelegenheit „Wundt-Haus (Großbothen)“ telefoniert; ausserdem haben wir das Thema „Psychologie und Geschichte“ wiederholt besprochen, das ihm am Herzen lag. Ich habe unsere Gespräche sehr geschätzt!
Nun hat Fabian Hutmacher (der vor kurzem eine kritische Würdigung der Historischen Psychologie Gerd Jüttemanns veröffentlicht hat, auf die man hier per open-access zugreifen kann: https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/09593543221122735) auf mein Bitten hin in einem Gastbeitrag für diesen Blog einen Nachruf verfasst, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Der Nachruf von Andreas Jüttemann (seinem Sohn) wurde über die DGPs-Mailingliste bereits versandt (hier zu finden).
Hier nun der Gastbeitrag von Fabian Hutmacher:
„In einer autobiographischen Selbstdarstellung schrieb Gerd Jüttemann, er sei schon in der Schulzeit durch ein hohes Maß an Unangepasstheit aufgefallen (vgl. Jüttemann, 2017). Dieses hohe Maß an Unangepasstheit hat sich Gerd Jüttemann bis ans Ende seines beinahe 90-jährigen Lebens bewahrt: Über Jahrzehnte hinweg hat er sich ausdauernd und leidenschaftlich für eine geisteswissenschaftliche Psychologie in Ergänzung zum an naturwissenschaftlichen Vorbildern orientierten Mainstream eingesetzt. Seiner Überzeugung, „dass eine Psychologie, die die inhaltliche Seite des Seelischen ausblendet und sich auf die quantitative Erforschung funktionaler Zusammenhänge beschränkt, eine unvollständige und unvollkommene Psychologie bleiben muss, weil sie ihren wichtigsten Gegenständen ausweicht“ (Jüttemann, 2010, S. 13), ist Jüttemann dabei konsequent gefolgt – unbeeindruckt davon, dass Unterstützung für diese Perspektive zu gewinnen gewiss nicht immer leicht war. Dank seiner Beharrlichkeit und Ausdauer hat er ein Werk hinterlassen, das Anregungen und Gedanken für all jene bereithält, die die Psychologie – zumindest auch – als eine Humanwissenschaft verstanden wissen wollen.
Geboren und aufgewachsen in Oberhausen ging Jüttemann nach dem Abitur nach Köln, wo er sich nach einem Hineinschnuppern in verschiedene Disziplinen schließlich für die Psychologie als Studienfach entschied. Nach dem Studium führte sein Weg zunächst in die Welt außerhalb der Wissenschaft, etwa als Berufsberater für Abiturienten nach Rosenheim und als leitender Psychologe an den Standort Kiel des späteren Landesarbeitsamtes Schleswig-Holstein-Hamburg. Jüttemanns Hoffnung, dass ihm umfangreiche praktische Tätigkeiten später einen Vorteil bei dem Versuch verschaffen würden, als Hochschullehrer zu reüssieren, sollte sich erfüllen: Nicht einmal zwei Jahre nach seiner Promotion wurde Jüttemann mit Beginn des Jahres 1975 Professor an der TU Berlin, wo er bis zu seiner Emeritierung tätig blieb – wobei seine wissenschaftliche Umtriebigkeit in den Jahren und Jahrzehnten nach der Emeritierung eher zu- als abgenommen hat.
Im Laufe seines langen Lebens war Jüttemann unter anderem Mitherausgeber der zwischen 1989 und 2002 erschienenen Zeitschrift Psychologie und Geschichte, Reihenherausgeber von insgesamt 21 Bänden zum Thema Philosophie und Psychologie im Dialog sowie von bisher acht Bänden zur Psychogenese der Menschheit – von zahlreichen weiteren, von ihm verantworteten Sammelbänden, Monografien und Artikeln ganz zu schweigen.
Im Mittelpunkt seiner Arbeit standen dabei zwei Forschungszweige: Zum einen interessierte sich Jüttemann – in Anschluss an und in Zusammenarbeit mit Hans Thomae – für die Biografieforschung und die Entwicklungsgeschichte des einzelnen Individuums, wobei sein Augenmerk vor allem auf der Analyse der Selbstgestaltungsfähigkeit des Menschen lag (‚Autogenese‘; vgl. Jüttemann, 2007). Jüttemanns Beitrag erschöpfte sich dabei nicht in theoretischen Überlegungen, sondern umfasste auch methodische Innovationen, insbesondere die Begründung der Komparativen Kasuistik, im Rahmen derer aus der Analyse und dem Vergleich von Einzelfällen Erkenntnisse gewonnen werden sollen (vgl. z.B. Jüttemann, 1981; 1990; 2009). Mindestens ebenso nachdrücklich widmete sich Jüttemann der Historischen Psychologie, unter der er „nicht so sehr das kurze Werden der Institution oder Disziplin Psychologie, sondern die unvorstellbar lange Gegenstandsgeschichte unseres Fachs“(Jüttemann, 2015, S. 177) verstanden wissen wollte. Es ging ihm also darum, die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit nachzuzeichnen – so der gleichnamige Titel eines von ihm herausgegebenen Bandes (Jüttemann, 2013; siehe auch Jüttemann, 1986; 2020). Eine historisch sensibilisierte und das Gewordensein der Psyche mit in den Blick nehmende Psychologie war für Jüttemann eine essenzielle Voraussetzung für ein besseres Verständnis menschlichen Erlebens und Verhaltens.
Ein besonderes Verhältnis hatte Gerd Jüttemann zum Werk Wilhelm Wundts: Während Wundts Wirken – auch heute noch – in vielen Darstellungen vor allem mit der Einrichtung des ersten Instituts für experimentelle Psychologie an der Universität Leipzig im Jahre 1879 in Verbindung gebracht und Wundt damit zum Urvater der modernen Experimentalpsychologie stilisiert wird, legte Jüttemann Wert auf die Feststellung, dass Wundt mit demselben Recht als ein Pionier der Kulturpsychologie und eines geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Forschungszugangs bezeichnet werden könne (vgl. Jüttemann, 2006). Einem solchen umfassenden Verständnis von Psychologie fühlte sich Jüttemann eng verbunden. Vor diesem Hintergrund wird auch nachvollziehbar, weshalb sich Jüttemann im Rahmen eines von ihm mit-initiierten Fördervereins für die Erhaltung des Wilhelm-Wundt-Hauses in Großbothen bei Leipzig engagierte, des letzten noch existierenden Wohnsitzes von Wilhelm Wundt. Er hoffte, dass dort ein Ort für kulturgeschichtlich und historisch fundierte psychologische Forschung entstehen würde. Sein Wunsch scheint in Erfüllung zu gehen: Im Mai dieses Jahres konnte in Großbothen Richtfest gefeiert werden (Medizinische Hochschule Brandenburg, 2023).
Das Erscheinen seiner letzten beiden Herausgeberwerke hat Gerd Jüttemann nun dagegen nicht mehr erlebt: Die Titel der beiden Bände –&Wie der Mensch sich selbst entdeckte: Zur Psychologie des Erkennens von Sinn (Jüttemann, 2023a) und Wie Destruktivität die Geschichte lenkt: Psychopathologien und Auswege (Jüttemann, 2023b) – legen gleichwohl Zeugnis ab von der Breite und Tiefe an Fragen, mit denen er sich Zeit seines akademischen Lebens beschäftigte. Seine Auseinandersetzung mit diesen Problemen war dabei niemals ein individuelles Ringen im stillen Kämmerlein: Über die Jahrzehnte hinweg hat Jüttemann zahlreichen – auch und gerade: jungen – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit geboten, im Rahmen der von ihm verantworteten Publikationsprojekte ihre Gedanken auszuprobieren, im Übrigen selbst dann, wenn sie seinen eigenen Ansichten widersprachen. Alleine schon für diese beständige Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und das Engagement für ein – mit Hannah Arendt gesprochen – ‚Denken ohne Geländer‘ können wir Gerd Jüttemann dankbar sein. Mit ihm verliert die akademische Landschaft einen verdienten und profilierten Verfechter einer multiperspektivisch-pluralistischen Psychologie.
Literatur:
Jüttemann, G. (1981). Komparative Kasuistik als Strategie psychologischer Forschung. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 29(2), 101–118.
Jüttemann, G. (1986). Die Geschichtlichkeit des Seelischen: Der historische Zugang zum Gegenstand der Psychologie. Beltz.
Jüttemann, G. (1990). Komparative Kasuistik. Asanger.
Jüttemann, G. (2006). Wilhelm Wundts anderes Erbe. Ein Missverständnis löst sich auf. Vandenhoeck & Ruprecht.
Jüttemann, G. (2007). Persönlichkeit und Selbstgestaltung. Der Mensch in der Autogenese. Vandenhoeck & Ruprecht.
Jüttemann, G. (2009). Komparative Kasuistik. Die psychologische Analyse spezifischer Entwicklungsphänomene. Pabst Science Publishers.
Jüttemann, G. (2010). Konkrete Psychologie als Anspruch und Programm. In G. Jüttemann & W. Mack (Hrsg.), Konkrete Psychologie (S. 13–39). Pabst Science Publishers.
Jüttemann, G. (2013). Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit. Pabst Science Publishers.
Jüttemann, G. (2015). Die falsche Reihenfolge. Psychologische Rundschau, 66(3), 177–178. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000256
Jüttemann, G. (2017). Gerd Jüttemann. In K.-H. Renner & H.Lück (Hrsg.), Psychologie in Selbstdarstellungen: Band 5(S. 126–141). Pabst Science Publishers.
Jüttemann, G. (2020). Psychologie der Geschichte. Pabst Science Publishers.
Jüttemann, G. (2023a). Wie der Mensch sich selbst entdeckte: Zur Psychologie des Erkennens von Sinn. Psychosozial.
Jüttemann, G. (2023b). Wie Destruktivität die Geschichte lenkt: Psychopathologien und Auswege. Psychosozial.
Medizinische Hochschule Brandenburg (2023, 22. Mai). Richtfest am Wilhelm-Wundt-Haus: Neue Etappe der Rettung erreicht. https://www.mhb-fontane.de/de/aktuellesartikel/richtfest-am-wilhelm-wundt-haus“
PS: Der Nachruf von Fabian Hutmacher ist auch hier veröffentlicht: https://www.phi-psy.de/in-memoriam-gerd-juettemann-1933-2023
Keine Antworten