Die Zukunft der (komplexen) Problemlöseforschung

Rechtzeitig zum Jahresschluss 2019 hatten die Herausgeber des „Journal of Dynamic Decision Making“ (JDDM) auf den Anstoß hin, den der neue Geschäftsführende Herausgeber des Journals, Wolfgang Schoppek (Universität Bayreuth), gegeben hat, eine Artikelsammlung herausgegeben, in denen verschiedene Autorinnen und Autoren aus dem Forschungsfeld des „komplexen Problemlösens“ um ihre Meinung zu folgenden sieben Fragen zur Zukunft der (komplexen) Problemlösepsychologie gebeten wurden:

  1. Warum sollte es weiterhin Problemlösungsforschung geben (neben der Forschung zu Gedächtnis, Entscheidungsfindung, Motivation usw.)?
  2. Was sind die Verbindungen zwischen der aktuellen CPS-Forschungspraxis und realen Problemen? Wo sehen Sie Entwicklungspotenzial hin zu stärkeren Zusammenhängen?
  3. Nehmen die Teilnehmer angesichts der Künstlichkeit der Laborsituation die vorgestellten Probleme wirklich an? Welche Erkenntnisse können trotz dieser Künstlichkeit gewonnen werden und welche nicht?
  4. Welche Hinweise gibt es auf den Einfluss anderer Wissensarten neben dem Strukturwissen auf die Ergebnisse von CPS? Welche dieser Wissensarten sollten in zukünftigen Forschungen untersucht werden?
  5. Welche Evidenz gibt es für den Einfluss von Strategien (außer VOTAT) auf die Ergebnisse von CPS? Welche dieser Strategien sollten näher untersucht werden?
  6. Gibt es intuitives CPS?
  7. Was unterscheidet Experten in CPS von Laien?

Hier sind der Aufruf zur Mitarbeit und die Fragensammlung (auf Englisch) zu finden:

Schoppek, W., Fischer, A., Holt, D., & Funke, J. (2019). On the future of complex problem solving: Seven questions, many answers? Journal of Dynamic Decision Making, 5(5). https://doi.org/10.11588/jddm.2019.1.69294

Das Ergebnis der Umfrage stellt eine kleine Standortbestimmung der Problemlösepsychologie dar und zeigt, wie die zehn Antwortenden in acht Beiträgen die Zukunft dieses Gegenstandsbereichs einschätzen. Ich möchte in diesem Blog-Beitrag die verschiedenen Statements meinerseits kurz kommentieren. Ich gehe dabei zunächst in alphabetischer Reihenfolge vor, bevor ich am Schluß die Antworten auf die sieben Fragen zusammenführen möchte.

Jens Beckmann (Durham University, UK) weist nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer prägnanten Theorie hin: „Ich hoffe, dass ein überfälliger Spurwechsel in der CPS-Forschung, nämlich mit der Theorie und nicht mit den Daten zu beginnen, ihr neues Leben einhaucht.“ (Beckmann, 2019, S. 4 – alle Zitate übersetzt von J.F.). Er möchte, dass wir unsere Bemühungen auf die „Entwicklung oder Verfeinerung von Problemlösungstheorien“ richten.

Andreas Fischer (Forschungsinstitut Betriebliche Bildung, Nürnberg) kritisiert den Fokus der aktuellen CPS-Forschung auf interaktive Spielzeugprobleme und fordert „komplexere und/oder realistische Probleme im Labor auf immersive Weise“. Er macht sich stark für das KSAO-Modell (das aus folgenden Attributen besteht: Wissen, Fertigkeiten, Fähigkeiten, Sonstiges) mit domänenübergreifenden und domänenspezifischen Kompetenzen.

Joachim Funke (Uni Heidelberg) plädiert für die Bedeutung von „Systemkompetenz“ und kritisiert, dass die aktuelle CPS-Forschung „die ursprüngliche Komplexität realer Probleme“ verloren habe. Komplexe Probleme lassen sich nicht mit einfachen Strategien wie VOTAT (vary one thing at a time) bearbeiten.

Dominik Güss (University of North Florida, USA) sieht die hohe Relevanz der CPS-Forschung und nennt sie „ein Juwel zur Erforschung von Expertise, strategischer Flexibilität, Kultur und vielem mehr“. In Bezug auf Wissen macht er eine interessante Aussage: „Expertenwissen kann zu törichten Entscheidungen führen“.

Annette Kluge (RUB Bochum) interessiert sich für Handlungen von Personen, die in High Reliability Organizations (HRO) wie Kraftwerken oder Krankenhäusern arbeiten. Situationsbewusstsein (situation awareness) ist in diesen Kontexten ein wichtiges Konstrukt. Sie stellt fest, dass es viele Jahre dauert, ein Experte in diesen Bereichen zu werden.

Magda Osman und Denis Omar Verduga Palencia (beide von Queen Mary University of London, UK) verweisen auf die Notwendigkeit des „reflektierenden Denkens“ und die Notwendigkeit des Zweifels (als eine Art von epistemischer Unsicherheit, d.h. ein Mangel an Wissen, im Gegensatz zur aleatorischen Unsicherheit, d.h. der inhärenten Verrauschtheit der Bedingungen). Ihr Titel macht eine klare Aussage: „Die Zukunft der Problemlösungsforschung ist nicht Komplexität, sondern dynamische Unsicherheit“.

Wolfgang Schoppek (Uni Bayreuth) verweist auf das integrative Potenzial der CPS-Forschung („es geht um den ganzen Menschen“) und die „Relevanz von motivationalen, selbstregulatorischen und emotionalen Prozessen“ für das Verständnis von CPS. Seiner Ansicht nach sind High-Fidelity-Simulationen nicht notwendig, aber die Forscher sollten ihre Forschungsinteressen klarer formulieren, wenn sie bestimmte Mikrowelten verwenden.

Matthias Stadler (LMU München) und Samuel Greiff (Uni Luxembourg) sehen die Fähigkeit, (komplexe) Probleme zu lösen, als „eine der quintessentiellen Fähigkeiten für das berufliche und persönliche Leben“. Sie wollen die Traditionen der CPS-Forschung in wissensreichen Situationen mit denen in wissensarmen Situationen verbinden.

Soviel zur kurzen Charakterisierung der acht eingereichten Statements. Nun zur inhaltlichen Zuammenschau geordnewt anhand der sieben Leitfragen.

Dass es weiterhin Problemlösungsforschung geben sollte (Frage 1), wird nicht bestritten, manche Beiträge betonen sogar die wachsende Notwendigkeit solcherart Forschung angesichts der Probleme im 21. Jahrhundert („CPS as a 21st century skill„). Allerdings werden auch stärkere Brückenschläge zur Entscheidungsforschung gefordert – da kann ich nur zustimmen!

Die Verbindungen zwischen der aktuellen CPS-Forschungspraxis und realen Problemen (Frage 2) werden mehrfach problematisiert – einerseits wird bezweifelt, dass die Exploration unbekannter Kleinsysteme uns weiterbringt, dagegen steht die Meinung, dass die Rolle des allmächtigen Bürgermeisters (aka „Lohhausen„) auch nicht gerade dem Problemlöse-Alltag entspringt.

Ob die Untersuchungsteilnehmer angesichts der Künstlichkeit der Laborsituation die vorgestellten Probleme wirklich annehmen (Frage 3) und ob trotz dieser Künstlichkeit brauchbare Erkenntnisse gewonnen werden können, wird einerseits bezweifelt (es sind keine „existentiellen“ Probleme dabei, „low stakes“), andererseits bejaht (z.B. mit Hinweis auf erfolgreiche Simulatoren-Trainings).

Welche anderen Wissensarten nehmen neben Strukturwissen Einfluss auf die Ergebnisse von CPS (Frage 4)? Welche Wissensarten sollten in zukünftigen Forschungen untersucht werden? Die Antworten sind klar: Strukturwissen (also Wissen über die Abhängigkeiten zwischen den Elementen eines Systems) ist sehr wichtig, daneben aber auch Strategiewissen und – speziell bei dynamischen Echtzeit-Systemen – „situational awareness„. Auch allgemeines „Domänenwissen“ (Weltwissen?) scheint interessant.

Über den unbestritten bedeutenden Einfluss von Strategien (Frage 5) gibt es verschiedene Zugänge (bekannte Akronyme: VOTAT, NOTAT oder PULSE), die allerdings auf einfache Problemsituationen beschränkt sind. Für komplexe Situationen werden etwa die „36 Strategeme“ und abstraktere Heuristiken empfohlen.

Hinsichtlich der Rolle von Intuition beim Lösen komplexer Probleme (Frage 6) besteht Konsens, dass es solche Prozesse (etwa im Kontext von Expertise oder Weisheit) gibt, diese aber in gewissen Widerspruch zur Definition von Problemlösen als dem Nicht-Routine-Handeln stehen, bei dem bewusste Aufmerksamkeit eine zentrale Rolle spielt.(explizite im Unterschied zu impliziten Prozessen).

Was unterscheidet Experten in CPS von Laien (Frage 7)? Vorausgesetzt es gibt Experten: Neben dem wichtigsten Unterscheidungsmerkmal „Wissen“ werden die KSAO-Merkmale (Knowledge, Skills, Abilities, and Others) sowie Systemkompetenzen („systems competencies„) und reflektives Denken genannt.

Alles in allem fühlen wir uns (die Herausgeber des JDDM) durch diese Antworten auf unsere sieben Fragen bei der Weiterführung des Journals ermutigt. Genauere Antworten auf unsere Fragen könnten in Zukunft durch kommende Forschungsarbeiten gegeben werden, die wir gerne dort veröffentlichen.

Quellenangaben:

Beckmann, J. F. (2019). Heigh-Ho: CPS and the seven questions – some thoughts on contemporary Complex Problem Solving research. Journal of Dynamic Decision Making, 5(12). https://doi.org/10.11588/jddm.2019.1.69301

Fischer, A. (2019). A new orientation for research on problem solving and competencies in any domain. Journal of Dynamic Decision Making, 5(9). https://doi.org/10.11588/jddm.2019.1.69298

Funke, J. (2019). Complex problem solving in search for complexity. Journal of Dynamic Decision Making, 5(10). https://doi.org/10.11588/jddm.2019.1.69299

Güss, C. D. (2019). Complex problem solving: A gem to study expertise, strategic flexibility, culture, and so much more; and especially to advance psychological theory. Journal of Dynamic Decision Making, 5(7). https://doi.org/10.11588/jddm.2019.1.69296

Kluge, A. (2019). Complex problem solving research and its contribution to improving work in High Reliabilty Organisations. Journal of Dynamic Decision Making, 5(6). https://doi.org/10.11588/jddm.2019.1.69295

Osman, M., & Palencia, D. O. V. (2019). The future of problem solving research is not complexity, but dynamic uncertainty. Journal of Dynamic Decision Making, 5(11). https://doi.org/10.11588/jddm.2019.1.69300

Schoppek, W. (2019). A flashlight on attainments and prospects of research into complex problem solving. Journal of Dynamic Decision Making, 5(8). https://doi.org/10.11588/jddm.2019.1.69297

Stadler, M., & Greiff, S. (2019). Quo Vadis CPS? Brief answers to big questions. Journal of Dynamic Decision Making, 5(13). https://doi.org/10.11588/jddm.2019.1.69299

PS: Warum es so lange gedauert hat mit diesem Blog-Beitrag zu den Artikeln von 2019? Ich hatte Ende 2019 damit angefangen, dann kam anderes dazwischen (u.a. Corona) und ich hatte schlicht vergessen, dass ich schon etwas geschrieben hatte (ich habe eine ganze Reihe „angefangener“ Texte auf meinen Festplatten). Jetzt kam durch eine JDDM-Redaktionskonferenz das Thema „Seven questions“ erneut zur Sprache und mein Gedächtnis (und eine Suche im Dateiendshungel) brachte die Erinnerung (und den begonnenen Text) zurück…

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