Poetikdozentur 2019: Ulf Stolterfoht

Schon wiederholt habe ich in meinem Blog über die Poetikdozenturen an unserer Universität geschrieben (siehe meine Kommentare zu 2018 Maxim Biller, 2017 Frank Witzel, 2016 Felicitas Hoppe, 2014 Wilhelm Genazino, 2012 Patrick Roth, 2010 Bernhard Schlink, 2008 Peter Bieri (alias Pascal Mercier), 1998 Hanns-Josef Ortheil). Hier kommt ein Bericht über den diesjährig geehrten Dichter.

In diesem Jahr ist der Lyriker, Übersetzer und Verleger Ulf Stolterfoht (Jahrgang 1963) zu Besuch, von dem ich bislang noch nichts gehört hatte (ich muss gestehen, dass mein Herz mehr für Prosa als für Lyrik schlägt…). Allein: als ich den Titel seiner Poetikvorlesung sah, „Methodenmann vs. Grubenzwang und mündelsichre Rübsal“, wurde ich neugierig. Und in der Tat gab es eine witzige und durchaus tiefsinnige Vorlesung (dazu Rezitationen ausgewählter eigener Gedichte, z.B. „fachsprachen IV (1) eröffnet lebhaft„). Stolterfoht spricht langsam, legt Wert auf jedes einzelne Wort, liebt Sprache – das ist es, was mich an dem Mann begeistert. Zudem hat er das Problem der Protokollsätze (eine etwas naive Vorstellung aus dem Wiener Kreis um Rudolf Carnap und Moritz Schlick zur Etablierung einer guten Wissenschaftssprache) humorvoll angesprochen mitr Verweis auf George Moore und dessen Paradoxon „Es regnet, aber ich glaube nicht, dass es das tut“.

Stolterfoth nennt seinen eigenen Verlag „Brüterich Press“ und bewirbt ihn mit dem Spruch „Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis – dann ist es Brüterich Press“ – das ist nett, denn alle Bücher dieses Verlags kosten genau 20 Euro … Aber bevor er den Verlag gründete, gab es andere Kindheitsträume: „1971 erlitt ich bei der Eröffnung eines privaten Postamts Schiffbruch und eröffnete eine kleine Leihbücherei…“. Stempel, Stempelhalter, Gummifinger: Das waren Ausrüstungsgegenstände, die sein Herz höher schlagen liessen.

In seiner Vorlesung betonte er zur Beruhigung der anwesenden Studierenden, dass er sein Studium der Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Bochum und Tübingen abgebrochen habe. Glaubhaft machte er das durch Aufzählung zahlreicher Tübinger Gastwirtschaften (getrennt nach Sommer- und Winter-Locations), in denen er gelesen  (4 Stunden Wittgensteins „Tractatus„), gedichtet (4 Stunden aus deem Gelesenen und Halbverstandenen Gedichte zimmern) und getrunken habe (wenn ich es recht verstanden habe, ging es bei den Getränken nicht nur um Mineralwässer).

Was mir besonders gut gefallen hat (neben seinem Exkurs über Ludwig Wittgensteins Unterscheidung von sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen): er beschrieb anschaulich die Glücksgefühle, die ein Nicht-Verstehen von Wörtern auslösen könne! Normalerweise würde man sagen „Verstehen macht glücklich“ – aber es gibt auch Argumente für den umgekehrten Fall. Das wäre ein Thema für eine psychologische Bachelor- oder sogar Masterarbeit…

Einen seiner Lieblingsätze will ich noch erwähnen (neben verschiedenen Paragraphen aus Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen„, deren Lektüre er allen ans Herz legte und aus denen er ausgiebig zitierte): „Chef, ich glaube, Sie sollten sich das hier mal angucken“. Wir ahnen alle, was als nächstes kommt und was mit „das hier“ gemeint sein könnte…

An den kommenden beiden Montagen besteht erneut die Gelegenheit, Ulf Stolterfoht in seiner verschlungenen Ausführungen zuzuhören (Programm). Ich werde versuchen, die Glücksgefühle des Nicht-Verstehens weiter zu vertiefen.

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