William James und sein Heidelberger Fiasco

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William James (1842-1910); Quelle: Wikimedia

Psychologiegeschichte ist nicht für jedermann ein spannendes Thema – dennoch will ich heute anläßlich einer eben erschienenen Publikation von Horst Gundlach (einem Alumnus unseres Instituts) einmal darüber schreiben. Zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend: Zum einen geht es um den „Vater der amerikanischen Psychologie“, nämlich William James; zum anderen geht es um Heidelberg, genauer gesagt: den vermeintlichen Besuch von James bei den beiden damaligen Heidelberger Koryphäen Hermann von Helmholtz und Wilhelm Wundt im Jahr 1868, also vor vor ziemlich genau 150 Jahren in ziemlich genau den Gebäuden, in denen wir heute unsere Arbeit verrichten.

In amerikanischen Darstelllungen wird vielfach der Mythos verbreitet, James habe auf seiner Europa-Reise von April 1867 bis November 1868 bei europäischen Spitzenwissenschaftlern in Leipzig, Berlin, Heidelberg, Wien, Paris und Florenz studiert. Tatsächlich hat ihn seine Europa-Reise nach Dresden, Teplitz (ein böhmischer Kurort, wo James sein Rückenleiden behandeln ließ), Berlin, Paris und auch nach Heidelberg geführt. Die akribische Recherche von Horst Gundlach macht allerdings deutlich, dass James kein fleissiger Student (an keinem der Orte!) gewesen sein dürfte; sein kurzer Aufenthalt Ende Juni 1868 in Heidelberg wird in einem späteren Brief als „Heidelberg fiasco“ bezeichnet – er ist nämlich kurz nach seiner Ankunft überstürzt abgereist! Er hatte den Semesteranfang (Mitte April) verpasst. Zudem wurde Ende Juni über eine mögliche Rückkehr von Helmholtz an die Universität Bonn spekuliert (die nicht erfolgte). Gundlach schreibt (p. 68): „The Heidelberg fiasco was the outcome of the interplay of deficient information gathering and a personal propensity toward escapist behavior in perplexing situations“ – William James zeigt hier keinen gelungenen Umgang mit einem komplexen Problem! Das geschilderte Fluchtverhalten ist auch an den anderen Orten belegt.

Als ich gestern abend den Artikel zu lesen begann, konnte ich nicht mehr aufhören – es ist eine spannende Geschichte, die sich stellenweise wie ein Krimi liest, was mit der gründlichen Spurensuche zusammenhängt: Mosaiksteine werden zusammengeführt und entwerfen ein anderes Bild, als es in den Jubel-Biographien über den „amerikanischen Plato“ (so Alfred North Whitehead über James) zu finden ist. Und war bei James vor seinem Besuch die Stadt Heidelberg noch als „delicious place to live in“ bezeichnet worden, kehrte sich das in der Rückschau ins Negative um: „how lonesome the life there was“, zudem eine klaustrophobische Enge des Neckars zwischen „precipitous hills“. Was ein Glück, dass er seinem Vater schreiben konnte, er habe russische Prinzessinen getroffen, die ihm ihre Krankengeschichten und Eheprobleme ausbreiteten!

Vielleicht sollten wir rechtzeitig zum 150. Jahrestag des vermeintlichen Besuchs ein Schild an der Eingangstür unseres Instituts (dem Friedrichsbau) anbringen lassen, wonach William James zwar mit gewisser Wahrscheinlichkeit vor dieser Tür gestanden haben mag, aber das Gebäude wohl nicht zum Studium betreten hat. – Hier das Abstract des lesenswerten Artikels:

„Urged on by his father to become a physician instead of a painter, William James pursued 3 evasion stratagems. First, to avoid becoming a practitioner, he declared that he wanted to specialize in physiology. Based upon this premise, he left for Germany in the spring of 1867. The second step was giving up general physiology and announcing that he would specialize in the nervous system and psychology. Based upon this premise, he declared that he would go to Heidelberg and study with Helmholtz and Wundt. However, he then deferred going there. When, at last, he was urged by an influential friend of his father’s to accompany him to Heidelberg, he employed his default stratagem: He simply fled. He returned home after 3 terms in Europe without enrolling at a single university. There is no evidence that he had learned anything there about psychology or experimental psychology, except, possibly, by reading books. James’s “Heidelberg fiasco” was the apogee of his evasion of his father’s directive. A dense fog of misinformation surrounds his stay in Heidelberg to this day. By analyzing circumstances and context, this article examines the fiasco and places it in the pattern of his behavior during his stay in Europe. Nevertheless, experiencing this fiasco potentially shaped James’s ambivalent attitude toward experimental psychology on a long-term basis. (PsycINFO Database Record (c) 2018 APA, all rights reserved)“

Quelle: Gundlach, H. (2018). William James and the Heidelberg fiasco. History of Psychology, 21(1), 47–72. https://doi.org/10.1037/hop0000083

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