Wissenschaftsrat kommentiert Psychologie

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Zu berichten ist über ein seltenes, aber wichtiges Ereignis: der Wissenschaftsrat (WR; oberstes Beratungsgremium der Bundesregierung in Sachen Wissenschaft) hat unter dem Titel „Perspektiven der Psychologie in Deutschland“ Empfehlungen für das Fach Psychologie ausgesprochen – das letzte Mal hat er 1983, also vor 35 Jahren, „Empfehlungen zur Forschung in der Psychologie“ ausgesprochen (Suche auf den WR-Seiten)!

Um es gleich vorneweg festzustellen: Es ist ein lesenswertes Papier vorgelegt worden, das viele interessante Zahlen zu unserem Fach präsentiert und zugleich Anstöße für die Weiterentwicklung gibt. Hier ein Zitat aus der Kurzfassung (p. 7):

„Die Psychologie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in beachtenswerter Weise zu einer international angesehenen empirischen Wissenschaft entwickelt. Dennoch befindet sich das Fach derzeit in einer Umbruchsituation. Die Herausforderungen durch die bevorstehende Reform der Psychotherapieausbildung, die Ausdifferenzierung des Studienangebotes wie auch des Faches als Ganzes sowie das Finden und Wahrnehmen seiner innerakademischen wie gesellschaftlichen Rolle erfordern große Anstrengungen und kluges Vorgehen, wozu hier Empfehlungen gegeben werden. Im Kern zielen diese Empfehlungen darauf, durch verschiedene Maßnahmen eine Profilierung und Öffnung der Psychologie in den verschiedenen Leistungsdimensionen voranzutreiben, um dem Fach eine zukunftsträchtige Entwicklung zu ermöglichen. Gleichzeitig stehen auch Empfehlungen zur Reform der Psychotherapieausbildung und deren Begleitung im Fokus des Interesses. Dies ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass der Wissenschaftsrat der Psychologie als „Mutterwissenschaft“ der Psychotherapie eine besondere Verantwortung für diese zuschreibt. Die Empfehlungen sollen daher angesichts der großen Herausforderungen, die in unserer Gesellschaft aktuell aus psychischen Störungen resultieren, auch einen Beitrag zur weiteren Verbesserung der Versorgung leisten.“

Der Text des WR besteht aus zwei Teilen, einer etwas umfangreicheren Beschreibung der „Ausgangslage“ und einem etwas kürzeren Teil „Analysen und Empfehlungen“. Was die Ausgangslage betrifft, geht es um die Themen „Studium und Lehre“, „Wissenschaftlicher Nachwuchs“, „Forschung“, „Arbeitsmarkt“ und „Psychotherapie“. (1) Studium und Lehre: Es wird deutlich, dass die Psychologie zu den nachfragestärksten Fächern an den Universitäten gehört, aber durch den extrem hohen Numerus Clausus private Fachhochschulen inzwischen 25% der Studierenden aufnehmen (das waren im WS 15/16 ca. 18.000). Die Anzahl unserer Studienabbrecher ist mit 11% die niedrigste Quote aller untersuchten Bachelorfächer. 873 Professorinnen und Professoren (Frauenanteil 40%) sind in der BRD tätig. (2) Zum Nachwuchs: Im Jahr 2015 wurden 544 Personen promoviert und 42 Personen habilitiert. (3) Zur Forschung: „Insgesamt 12.120 psychologische Publikationen, gut 45 % davon in englischer Sprache, sind für den Jahrgang 2014 aus den deutschsprachigen Ländern in der Datenbank PSYNDEX, der Datenbank der Psychologie des Leibniz-Zentrums für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID) in Trier verzeichnet.“ (p. 28). Uff! Die müssen erst mal gelesen werden. Für mich nicht verwunderlich: „Bei den Studienarten dominierten mehr denn je empirische Studien, während der Anteil an Überblicksarbeiten, theoretischen und methodologischen Studien seit Jahren rückläufig ist.“ (p. 29). Drittmitteleinnahmen liegen pro (staatlicher) Psychologie-Professur im Schnitt bei jährlich 117.000 Euro. (4) Zum Arbeitsmarkt: Der sieht mit 2.4% Arbeitslosenquote (etwas besser noch als der insagesamt gute Akademiker-Durchschnitt) ausgezeichnet aus. Im Mikrozensus 2014 gaben 116.000 Personen ein erfolgreich abgelegtes Psychologiestudium an, 92.000 waren nach eigenen Angaben als Psychologin/Psychologe tätig. Eine gute Quote! Allerdings scheinen diese Zahlen eher zu hoch. Neue Bachelorabschlüsse scheinen keinen Arbeitsmarkt zu finden, allenfalls auf dem Niveau zuarbeitender Psychologisch-technischer Assistenten (PsTA). Der Masterabschluss ist Standard. (5) Zur Psychotherapie: In 2016 wurden 2700 Psychologische Psychotherapeuten approbiert, darunter 800 Kinder- und Jugendlichentherapeuten. Gut 70% der ca. 43.000 gemeldeten Psychologischen Psychotherapeuten arbeiten in eigener Praxis. Und noch eine (erschreckende) Zahl: „Unter den rund 2.000 unter 35-jährigen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sind fast 91 % weiblich.“ (p. 467). Was bedeuitet das für therapiebedürftige Männer?

Der analytische und empfehlende zweite Teil der Stellungnahme befasst sich mit den Themen „Psychologie zwischen alten und neuen Herausforderungen“, „Perspektiven für die psychologische Forschung“, „Neue Formen des Psychologiestudiums“, „Psychotherapie“, „Wissenschaftlicher Nachwuchs“ sowie „Psychologie und Gesellschaft“. Beginnen wir mit den (1) Herausforderungen: Dass die jüngere Geschichte eine Erfolgsgeschichte sei, konstatiert der WR gleich zu Beginn und sieht dennoch in mehreren Bereichen zu bewältigende Herausforderungen: Der Primat der Einzelforschung (warum nicht mehr „many labs studies„?), innerfachliche Verschiebungen (z.B. die Trennung in Grundlagen- und Anwendungsdisziplinen wird hinfällig), interdisziplinäre Herausforderungen (Medizin, Informatik, Neurowissenschaften, Bildungsforschung), neue Bindestrich-Psychologien (z.B. Wirtschafts-P.). Zu den Herausforderungen zählt auch die Bewältigung der Replikationskrise und die Sicherstellung ethischer Prinzipien in unserem Forschungsalltag (siehe Folter-Skandal der APA).

(2) Forschungsperspektiven: Hier geht es dem WR in erster Line um Profilbildung (z.B. durch intradisziplinäre Vernetzung), aber auch um die vernachlässigte Theoriebildung und methodologische Reflexion. Der WR hat „eine Tendenz zu einer verstärkten Beschäftigung mit Detailfragen sowie ein Rückgang von Studien zur Geschichte des Faches und zu wissenschaftstheoretischen Fragestellungen beobachtet. Der Wissenschaftsrat ist der Überzeugung, dass ein Weiterverfolgen dieser Fragen von großer Bedeutung für die Leistungsfähigkeit des Faches ist, indem über die Weiterentwicklung von Methoden hinaus Grundannahmen überprüft werden, der innere Zusammenhalt der Disziplin in ihrer Vielfalt gestärkt wird und dies die Fähigkeit zur Positionierung gegenüber anderen Disziplinen sowie zur kritischen Auseinandersetzung mit ihnen befördert.“ (p. 55). Einfache Frage: Wieviele Professuren mit der Denomination „Theoretische Psychologie“ gibt es denn noch in der BRD? (Ich wiederhole ein häufig von mir vorgetragenes Beispiel: Von den rund 40 Professuren für Physik in Heidelberg sind allein 10 als Theoretische Physik deklariert – Zeichen eines weit entwickelten Faches!).

(3) Neue Formen des Psychologiestudiums: hier denkt der WR an eine stärkere Diversifizierung im Masterstudienbereich. Während im Bachelor-Abschnitt die Psychologie breit vermittelt werden sollte, kommt im Master die Spezialisierung zum Tragen. An den Fachhochschulen sollen das anwendungsorientierte Profil geschärft und die Zusammenarbeit von Hochschulen und Fachhochschulen gestärkt werden. Die Einrichtung zusätzlicher Studienplätze an staatlichen Hochschulen und Fachhochschulen wird angeraten. Die von der DGPs betriebene Einrichtung eines Qualitätssiegels für das Bachelorstudium wird zwar unterstützt, aber zugleich wird angeregt, die Spezifik psychologischer Studiengänge an Fachhochschulen stärker miteinzubeziehen. Ebenfalls diskutiert wird der Übergang vom BSc- in den MSc-Abschnitt und die Problematik von zu guten Noten („Kuschelnoten“ sind übrigens kein spezifisches Problem der Psychologie, sondern betreffen viele Fächer).

(4) Psychotherapie: „Das vom WR vorgeschlagene Standardmodell für die Psychotherapieausbildung sieht vor, diese während des ersten Studienabschnitts in ein allgemeines Psychologiestudium zu integrieren und in einem Masterstudium „Klinische Psychologie und Psychotherapie“ fortzuführen. Neben diesem Regelfall soll es aber ausdrücklich möglich sein, auch alternative Studienmodelle, beispielsweise in Kooperation mit der Medizin, zu erproben und zu evaluieren. Zur Qualitätssicherung benennt der WR Grundvoraussetzungen für Hochschulen, die eine Psychotherapieaus­bildung anbieten wollen. Dazu gehören unter anderem einschlägige aktive Forschung und ein systematischer und qualitätsgesicherter Zugang zur Patientenversorgung“.

(5) Wissenschaftlicher Nachwuchs: Attraktiven Stellen außerhalb der Wissenschaft stehen „wenig verläßliche Karrierewege an den Hochschulen“ (p. 79) gegenüber. Daher empfiehlt der WR „gezielte Nachwuchsprogramme, verlässliche Karrierewege und attraktive Zielpositionen“. Strukturierte Promotionsprogramme, Tenure-Track-Stellen an den Hochschulen und permanente Beschäftigungsverhältnisse alternativ zur Professur sollen dabei verfolgt werden.

(6) Psychologie und Gesellschaft: Der abschließende Teil betont die gesellschaftliche Relevanz der Psychologie. Die Beteiligung auch der Psychologie an den „Großen gesellschaftlichen Herausforderungen“ (siehe dazu meinen Blogbeitrag vom Mai 2015) wird eingefordert, hin zu einer „stärkere(n) Öffnung gegenüber der Gesellschaft“. Transfer von der Forschung in die Praxis soll nicht nur verstärkt betrieben werden, sondern auch seinerseits zum Gegenstand von Forschung und Lehre werden.

Insgesamt ein beflügelnder Lagebericht, den uns der WR vorgelegt hat! Ich bin als Fachvertreter stolz auf die hier beschriebenen Erfolge, die in den letzten 35 Jahre erzielt wurden; ich selbst habe ungefähr mit dem Erscheinen des 1983er-Berichts des WR mit meiner wissenschaftlichen Aktivität begonnen und fühle mich daher vom Berichtszeitraum 1983-2018 persönlich angesprochen. Ich teile aber auch die Einschätzung, dass wir viel zu tun haben, um die hier benannten Desiderata einzulösen und für Verbesserungen zu sorgen. Bei einer ganzen Reihe von Empfehlungen teile ich die Bewertung durch den WR voll und ganz, sehe aber keine klaren Lösungswege. Ein Besispiel: Natürlich wollen wir uns bei Berufungsverfahren nicht primär auf quantitative Leistungsindikatoren verlassen – aber ignorieren können wir Drittmittel-Summen und Hirsch-Indices auch nicht. Gute Kompromisse werden benötigt (siehe meinen Kommentar dazu in PPS).

Gut gefallen hat mir, dass die Psychologie als „Mutterwissenschaft“ der Psychotherapie bezeichnet wird! Ein schönes Bild! Aber natürlich frage ich mich, wer war wohl der Vater? Oder ist die Vaterschaft wieder mal unklar?

Hier der Link zur Pressemitteilung des WR, an dessen Ende die ausführlichen Dokumente gelinkt sind:

Hier der Link zur gemeinsamen Pressemitteilung der DGPs und des Fakultätentags Psychologie:

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