Wilhelm Wundts Fehler?

In einem kürzlich erschienenen Aufsatz für das „European Yearbook of History of Psychology“ diskutiere ich die Frage, ob die Psychologie nicht mit dem Vorbild der Physik schlecht beraten war. Der Gründungsvater der experimentellen Psychologie (erstes psychologisches Institut weltweit 1879 an der Uni Leipzig), Wilhelm Wundt, hat sich deutlich dem Vorbild der Naturwissenschaften zugewandt. Physik und Chemie standen bei ihm – dank seiner Heidelberger Ausbildung – hoch im Kurs.

Hier die Zusammenfassung meines Textes auf Deutsch: „Wilhelm Wundt (geb. 1832 Neckarau – gest. 1920 Großbothen), der von vielen Zeitgenossen als Begründer der modernen Psychologie angesehen wird, erlebte während seines Studiums bei den Heidelberger Naturforschern die großen Erfolge der Physik. In Anlehnung an deren Methoden (und deren Methodik) führte Wundt das Fach Psychologie erfolgreich von einer spekulativen zu einer empirischen und experimentellen Richtung. Ich skizziere das Bild eines möglichen Fehlers, der zu einer falschen Weichenstellung für die Psychologie im Allgemeinen geführt haben könnte. Alternativen zum Modell der Physik (z.B. das Modell der Biologie) haben sich bis heute kaum durchgesetzt.“

Natürlich weiss ich von den Vorzügen physikalischer Theorien, für die sich auch gerade David Trafimow und Klaus Fiedler in einem kürzlich veröffentlichten Manuskript aussprechen (Titel ihres Manuskripts: „An exploration of physics envy with implications for desiderata of psychology theories“). Ich sehe das ein wenig anders und folge damit Norbert Bischof, der als Psychologe und Biologe (er hat am Starnberger Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie bei Erich von Holst und Konrad Lorenz gearbeitet) natürlich einen anderen Blick auf unser Fach hat. Bischof schreibt: „Mir scheint, die Psychologie ist auf dem Weg zu ihrem wissenschaftlichem Selbstverständnis relativ früh an eine Gabelung gelangt und falsch abgebogen. Dadurch ist sie in eine Sackgasse geraten, aus der sie bis heute nicht herausgefunden hat.“ (Bischof, 2024, S. 19).

Natürlich weiss niemand zu sagen, wie die Geschichte der Psychologie verlaufen wäre, wenn es schon frühzeitig eine Anlehnung an biologische Konzepte gegeben hätte. Tatsächlich hat der Aufschwung psychologischer Forschung viel mit dem Gebrauch naturwissenschaftlicher Methoden (v.a. dem Experiment) zu tun. Warum sollte man sich nicht an das erfolgreiche Vorbild der Physik anlehnen, sondern zum Modellfall „Biologie“ wechseln?

Nun, die Physik handelt von unbelebter Materie, die Biologie (wie die Psychologie) von lebenden Systemen. Passt besser, oder? Zwei Vorteile: Die systemische Sichtweise ist das eine, ein lebendiges System das andere – „lebendig“ heißt immer auch: historisch geworden im Laufe der Zeit. Bei Menschen steckt neben den Naturgesetzen einfach sehr viel Evolution (Geschichte der Spezies) und Ontogenese (Geschichte des Individuums) drin. Die Historizität von Menschen ist wichtig für unser Verständnis der Seelenprozesse. Seien wir ehrlich: Selbst die (relativ einfache) Dynamik eines Räuber-Beute-Zyklus aus der Biologie übersteigt die Einfachheit mancher linearer Modelle aus der Psychologie.

Das hat Konsequenzen auch für die Methodik: Während das Experiment in den Naturwissenschaften vor allem zur Prüfung der Naturgesetze dient, kommen aus der Biologie vergleichende Techniken, Narrative/Biografien und holistisches Denken (anstatt Reduktionismus) hinzu. Wir sollten die Doppelnatur der Wissenschaft Psychologie ernst nehmen, Natur- und Geistes-Wissenschaft eben. Die Biologie hat ebenfalls beide Seiten, die Physik dagegen nur eine – es gibt keine verstehende Physik, wie es eine verstehende Psychologie (in Ergänzung zu einer erklärenden Psychologie) gibt.

Vielleicht beruht mein Einwand auf einem missverstandenen Wundt, auf einem Stereotyp, dem die Rezeption von Wundt erlegen ist. Ein guter Kenner von Wundts Schriften, Jochen Fahrenberg, schreibt nämlich: „Eine mögliche Annäherung ist, den »anderen« Wundt, den Kulturpsychologen und Geisteswissenschaftler, darzustellen und eine Revision des allgemeinen Stereotyps vom »Naturwissenschaftler Wundt« und, grundsätzlicher, eine Revision der vielfach propagierten naturwissenschaftlichen Orientierung der gegenwärtigen Psychologie zu fordern (Jüttemann 2006a, b).“ (Fahrenberg 2012, S. 235/236). Natürlich gibt es auch eine Kulturpsychologie von Wundt, aber die hat keine große Aufmerksamkeit erfahren – ein Fehler? Ein Fehler von uns Nachfahren? Wir könnten es ändern!

Referenzen

Bischof, N. (2024). Theoretische Psychologie—Worauf es ankommt und wie es zusammenhängt. Noch unveröffentlichtes Manuskript. Bernried.

Fahrenberg, J. (2012). Wilhelm Wundt erneut gelesen. In G. Gödde & M. B. Buchholz (Eds.), Der Besen, mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten. Band 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementarität (pp. 203–242). Psychosozial-Verlag.

Funke, J. (2024). Wundt’s mistake or: Which is the better model discipline, physics or biology? European Yearbook of the History of Psychology, 10, 147–160. https://doi.org/10.1484/J.EYHP.5.144968

Jüttemann, G. (Hg.) (2006a). Wilhelm Wundts anderes Erbe. Ein Missverständnis löst sich auf. In G. Jüttemann (Hg.), Wilhelm Wundts anderes Erbe (S. 13-30). Vandenhoeck & Ruprecht.

Jüttemann, G. (2006b): Wilhelm Wundt – der missverstandene Geisteswissenschaftler. In G. Jüttemann (Hg.), Wilhelm Wundts anderes Erbe (S. 131–143). Vandenhoeck & Ruprecht.

Trafimow, D., & Fiedler, K. (2024). An exploration of physics envy with implications for desiderata of psychology theories. American Psychologist, Advance online. https://doi.org/10.1037/amp0001416




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