Heidelberger Jahrbücher Online: Band 6 (2021)

Wieder einmal ist es soweit: Der diesjährige Band der „Heidelberger Jahrbücher„, deren allererster Band als einer der ältesten Zeitschriften weltweit bereits 1808 (sic!) publiziert wurde und die inzwischen von der „Gesellschaft der Freunde“ herausgegeben wird (siehe auch meinen Blog-Beitrag: Heidelberger Jahrbücher 1957-2019: eine wahre Fundgrube), ist fertiggestellt und online abrufbar (open access)! Unter der Schirmherrschaft von Rainer Matthias Holm-Hadulla, Michael Wink und mir sind 25 interessante Beiträge zum Thema „Intelligenz“ im neuen Band auf gut 560 Seiten versammelt. Ich zitiere aus dem Vorwort:

„Wie immer erfolgt an dieser Stelle eine stichwortartige Vorstellung der Beiträge dieses Bands. Am Anfang dieser Liste steht der Beitrag, der eine ausführliche Einordnung aller folgenden Kapitel unternimmt. Rainer M. Holm-Hadulla (Psychiatrie und Psychotherapie) erhellt in seinem einleitenden Kapitel „Intelligenz: Theoretische Grundlagen und praktische Anwendungen – Eine multi- und interdisziplinäre Zusammenfassung“ die hinter den Einzelbeiträgen liegende Tiefenstruktur und zieht Verbindungslinien. – Hier die Liste aller Beiträge in alphabetischer Folge (im Band selbst sind die einzelnen Beiträge den sieben Sektionen des Einleitungskapitels folgend angeordnet):

  • Ines Al-Ameery-Brosche und Franz Resch (Kinder- und Jugendpsychiatrie) weisen in ihrem Beitrag „Emotionale Robotik – Fluch oder Segen in der psychiatrischen Versorgung“ auf die Gefahren wie auch auf die Vorteile von „sozialen Robotern“ und medizinischen IT-Anwendungen hin, die als Werkzeuge angesehen werden können, aber nicht als Ersatz für menschliche Zuwendung.
  • Theresia Bauer (Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart) liefert mit dem Kapitel „Politische Intelligenz? Ein Blick aus der Praxis zwischen Politik und Wissenschaft“ einen Praxisbericht aus der Welt politischen Handelns. Weisheit und Vertrauen in die Wissenschaft spielen dabei eine wichtige Rolle.
  • Michael Byczkowski (SAP) und Magdalena Görtz (Urologie) schreiben über „Die Industrialisierung der Intelligenz“ und zeigen dabei anhand von medizinischen Beispielen, wie das Zusammenspiel von Beobachtung, Erfahrung, Erkenntnis und Fertigkeiten zu intelligenten Einsichten führen.
  • Andreas Draguhn (Physiologie) beschreibt die „Neurobiologie der Intelligenz“ und behandelt dabei ein wesentliches biologisches Korrelat der Intelligenz: das Gehirn. Wichtige Rahmenbedingungen für die genetisch angelegte „biologische“ Intelligenz zeigen, dass gute physische Bedingungen, vielfältige Reize und förderliche soziale Interaktionen in den ersten Lebensjahren günstig für deren Entwicklung sind.
  • Claudia Erbar und Peter Leins (Biologie) beziehen in ihrem Beitrag „Das intelligente Spiel mit Zufällen und Auslese“ eine evolutionstheoretische Perspektive und zeigen anhand zahlreicher Beispiele intelligente Konstruktionen der Evolution, wie sie heutzutage von der Bionik genutzt werden.
  • Klaus Fiedler, Florian Ermark und Karolin Salmen (Sozialpsychologie) beschreiben mit dem Begriff der „Metakognition“ mögliche Fehler und Täuschungen beim rationalen Urteilen und Entscheiden im Anwendungsfeld von Recht, Medizin und Demokratie. Qualitätskontrolle des eigenen Denkens ist angesagt.
  • Dietrich Firnhaber (Covestro AG, Leverkusen) nimmt mit seinem Beitrag „Intelligenter Umgang von Unternehmen mit Komplexität“ strategisches Planen zum Umgang mit unsicheren Sachverhalten unter die Lupe. Er zeigt, dass unsicheres Wissen über bekannte Unsicherheiten produktiv genutzt werden kann.
  • Thomas Fuchs (Philosophie und Psychiatrie) kommt in seinem Beitrag „Menschliche und künstliche Intelligenz – ein kritischer Vergleich“ zu dem Schluss, dass menschliche Intelligenz etwas spezifisch Menschliches ist, das nicht mit künstlicher Intelligenz, d.h. mit Algorithmen getriebener maschineller Datenverarbeitung auf die gleiche Ebene gestellt werden kann.
  • Joachim Funke (Allgemeine Psychologie) beschreibt in seinem Beitrag „Intelligenz: Die psychologische Sicht“ verschiedene Konzeptionen des Konstrukts und weist zugleich auf deren „dunkle Seite“, also das zerstörerische Potential intelligenten Handelns hin.
  • Sebastian Harnisch (Politikwissenschaft) wirft einen Blick auf das Konzept der „Politischen Intelligenz und Weisheit“. Dabei werden historische Wurzeln dieser Konzepte ebenso dargestellt wie aktuelle Entwicklungen im 20./21. Jahrhundert.
  • Sabine Herpertz (Psychiatrie und Psychotherapie) unterscheidet in ihrem Kapitel „Interpersonelle Intelligenz“ Mentalisierung, Empathie und Fürsorge. Sie beschreibt deren neurobiologische Korrelate und zieht praktische Konsequenzen
  • Vincent Heuveline (Mathematik) und Viola Stiefel (Rechenzentrum) beschreiben in ihrem Beitrag „Künstliche Intelligenz und Algorithmen – Wahrer Fortschritt oder doch nur digitale Alchemie?“ die Grundlagen von KI und die Grenzen ihrer Anwendungsmöglichkeiten. Sie plädieren für Verbesserung der KI-Kompetenzen z. B. im schulischen Bereich und gleichzeitig für die vernünftige Handhabung von KI unter ethischen und ökölogischen Gesichtspunkten.
  • Thomas Holstein (Molekulare Biologie) geht davon aus, dass das gesamte zelluläre und molekulare Repertoire unseres Nervensystems sich bereits auf früheren Evolutionsstufen vor über 500 Millionen Jahren ausgebildet hat. Die Fähigkeit neuonaler Systeme zu kognitiven Entscheidungsprozessen ermöglicht assoziatives Lernen und intelligente Problemlösungen schon bei aus unserer Sicht einfachen Organismen wie der Meeresschnecke. Dabei spielen spezifische Gene eine zentrale Rolle. Vergleichende genomische Untersuchungen tragen zum Verständnis der Gehirnevolution entscheidend bei.
  • Magnus von Knebel Doeberitz (Tumorbiologie) zeigt neue Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz im Bereich der Medizin auf. Viele aktuelle Fortschritte der Medizin seien ohne KI nicht möglich. Dem Internet of Things stellt er ein Internet of Medicine an die Seite.
  • Katajun Lindenberg und Ulrike Basten (Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie) beschreiben aus einer klinischen Perspektive die „Entwicklung der Intelligenz im Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Medien“. Angesichts des steigenden Gebrauchs digitaler Medien bei Kindern und Jugendlichen werden hier in Form eines Überblicksartikels Vor- und Nachteile in Bezug auf die geistige Entwicklung diskutiert
  • Vera Nünning (Anglistik) greift in ihrem Beitrag „Intelligenz in und mit Literatur“ unser Rahmenthema auf, indem sie dessen Darstellung in zwei aktuellen Romanen von Ian McEwan bzw. Kazuo Ishiguro analysiert und damit die mächtige Erfahrungswelt literarischer Werke für das Selbst- und Welt-Verständnis nachvollziehbar macht.
  • Manfred Oeming (Theologie) macht in seinem Beitrag „Intelligentia Dei“ zum einen die Wissenschaftsfreundlichkeit der Bibel deutlich, zum anderen warnt er vor allzu großer Technikgläubigkeit, die mit manchen „Heilsverheissungen“ der Apolegeten der künstlichen Intelligenz verbunden ist.
  • Gudrun Rappold (Genetik) beschreibt was passiert, „Wenn die Intelligenz beeinträchtigt ist“. Am Beispiel der Entwicklungsstörung „Autismus“ verdeutlicht sie genetische Mechanismen, die die Entwicklung und Funktion der neuronalen Netzwerke und Verschaltungen negativ beeinflussen, bei frühzeitiger Erkennung aber auch Behandlungsmöglichkeiten eröffnen.
  • Robert Sternberg (Kognitive Psychologie) stellt unter dem Titel “Meta-Intelligence: Understanding Control, and Coordination of Higher Cognitive Processes” (in englischer Sprache) die Frage, ob sich nicht verschiedene höhere Prozesse der Kognition unter dem Dachbegriff der Meta-Intelligenz zusammenfassen lassen.
  • Thomas Stiehl und Anna Marciniak-Czochra (Mathematik) beschäftigen sich mit dem Thema „Intelligente Algorithmen und Gleichungen? – Eine Annäherung an die Intelligenz mathematischer Konzepte“ und zeigen Analogien zwischen menschlicher Intelligenz und der Intelligenz lernender Algorithmen auf. Die mit Computersimulationen möglichen Parameterschätzungen und daraus resultierenden Vorhersagen machen komplexe Sachverhalte handhabbar.
  • Christof Weiand (Romanistik) schreibt über „Kulturelle Intelligenz in der Literatur: Giovanni Boccaccios ‚Falkennovelle‘“ und illustriert am Beispiel des „Decameron“, was es braucht, um einen literarischen Text angemessen zu verstehen. Er zeigt, wie Gender-Perspektiven ins Spiel gebracht und Vorurteile literarisch dekonstruiert werden können.
  • Christel Weiß (Medizinische Statistik) stellt in ihrem historisch ausgerichteten Kapitel „Statistik und Intelligenz – eine wechselvolle Beziehung“ die Entwicklung statistischer Methoden in den Kontext „Messung von Intelligenz“, behandelt aber auch die Intelligenz von Daten, Methoden, Anwendern und Konsumenten von Statistik.
  • Michael Wink (Biologie) befasst sich mit „Intelligenz bei Tieren“ und zeigt viele Beispiele für intelligentes Verhalten wie z. B. Hämmern, Angeln und Stochern. Tiere sind zu erstaunlichen kognitiven Leistungen in der Lage, wie z. B. Problemlösen, Gedächtnis und Orientierung sowie sozialem Verhalten.“
Eine beeindruckende Sammlung, wie ich finde! Auch wenn ich nicht alle Interpretationen der jeweiligen Intelligenz-Konzepte teile, bleibt allein schon die versammelte Perspektivenvielfalt ein Gewinn an sich. Möge dem Band eine wohlwollende Rezeption vergönnt sein!

hier geht es zu den Online-Jahrbüchern:

– Band 6, 2021: Intelligenz – Theoretische Grundlagen und praktische Anwendungen

– Band 5, 2020: Entwicklung – Wie aus Prozessen Strukturen werden

– Band 4, 2019: Schönheit: Die Sicht der Wissenschaft

– Band 3, 2018: Perspektiven der Mobilität

– Band 2, 2017: Citizen Science

– Band 1, 2016: Stabilität im Wandel

– und hier geht es zu den älteren, inzwischen digitalisierten Ausgaben seit 1957 nach dem alten lateinischen Sprichwort „Quod non est in rete, non est in mundo“ („Was nicht im Netz steht, ist nicht in der Welt“) …

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