Gastbeitrag „#OneMoreYear – Ein Appell an die Studierenden in Deutschland“ von Monika Sieverding, Professor of Psychology, Head of Gender Studies & Health Psychology, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Studierende in Deutschland sind in besonderer Weise von den coronabedingten Maßnahmen und Einschränkungen betroffen. Viele Studierende haben finanzielle Probleme, z.B. weil sie ihren Nebenjob verloren haben. Schon zwei Semester fand die Lehre fast ausschließlich online statt, für das kommende Sommersemester sind auch keine wesentlichen Lockerungen zu erwarten. Das heißt: Nach wie vor digitale Vorlesungen, Seminare und Prüfungen. Im Gegensatz zu Schulen sind an Universitäten keine Konzepte in Sicht, die zumindest Lehrveranstaltungen in Kleingruppen zulassen. Es gibt Studierende, die mit ihrem Bachelor- oder Masterstudium begonnen haben und noch keinerlei persönlichen Kontakt mit Lehrenden oder Mitstudierenden hatten. Der Frust ist verständlicherweise sehr groß — übrigens nicht nur unter Studierenden, sondern auch unter uns Lehrenden!
Ich möchte die Studierenden dazu ermuntern, sich ein Jahr mehr Studienzeit zu nehmen.
Wir (Fabian Scheiter, Dr. Laura Schmidt, Julia Obergfell und ich) haben in einem Forschungsprojekt an der Uni Heidelberg Stress im Studium untersucht und dazu das bewährte Demand-Control-Modell von Robert Karasek angewandt. Wir haben das Projekt begonnen, um zu erklären, warum nach Einführung der Bachelorstudiengänge ein so großer Anstieg im Stress bei Studierenden zu verzeichnen war. Und wir konnten zeigen, dass es nicht der Studienaufwand ist, der Stress und studentische Lebenszufriedenheit erklärt, sondern die Dimension Anforderungen und Entscheidungsfreiräume [1-4]. Wenn die Anforderungen zu hoch sind, weil z.B. zu viele Klausuren und Hausaufgaben in einem Semester geschrieben werden müssen und die Entscheidungsfreiräume zu niedrig sind (z.B., welche Lehrveranstaltungen belegt werden können, wann die Prüfungen gemacht werden), ist der Stress hoch und die Lebenszufriedenheit niedrig.
Seit Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge erlebe ich, dass Studierende unter einem enormen Druck stehen. Insbesondere unter einem enorm hohen Druck, das Bachelorstudium mit einer sehr guten Note abzuschließen, um gute Chancen auf einen Masterstudienplatz zu haben. Diesen Notendruck verstehe ich. Es gibt aber auch einen Druck, das Studium in der Regelstudienzeit abzuschließen. Und diesen Regelstudienabschluss-Druck verstehe ich nicht.
Zu Zeiten der Diplom-Studiengänge gab es auch Regelstudienzeiten, diese lag z.B. im Psychologie-Studiengang bei 9 Semestern. Die durchschnittliche tatsächliche Studiendauer betrug jedoch 12 Semester. Das heißt, die Psychologie-Studierenden, die nicht gerade durch übermäßige Faulheit oder Probleme in der Selbstorganisation des Studiums bekannt sind, haben sich vor Einführung der Bachelorstudiengänge im Durchschnitt 3 Semester mehr Zeit genommen.
Fragen Sie mal Ihre Professorinnen und Professoren, wie lange sie studiert haben. Meine Wette wäre: Kaum eine/r hat in der Regelstudienzeit ihr oder sein Studium abgeschlossen. (Bei mir waren es übrigens auch 12 Semester.) [Anmerkung JF: Bei mir waren es 18 Semester.]
Die Regelstudienzeit wurde coronabedingt in den meisten Bundesländern um 2 Semester verlängert (https://www.fzs.de/2020/12/18/anpassungen-der-regelstudienzeit-aufgrund-der-corona-pandemie-in-den-bundeslaendern-ein-ueberblick/), von daher ist eine Verlängerung des Studiums auch mit BaFög möglich. Mir ist bewusst, dass die finanziellen Probleme, die z.B. durch den Wegfall eines Nebenjobs entstanden sind, dadurch nicht gelöst werden. Jedoch ist zu erwarten, dass mit zunehmender Lockerung der Maßnahmen in den nächsten Monaten auch wieder mehr Möglichkeiten entstehen werden, neben dem Studium Geld zu verdienen.
Das ist eine Chance, die so schnell nicht wiederkommt. Nutzen Sie diese Chance!
Das vergangene Jahr ist nicht völlig verloren, Sie haben sicher auch bereichernde Erfahrungen gemacht. Aber gönnen Sie sich das zusätzliche Jahr, um die Begegnungen mit anderen Studierenden und Lehrenden nachholen zu können! Sie werden noch lange genug im Berufsleben tätig sein — vielleicht 40 Jahre? — es gibt keinen Grund zur Eile. Ich ermuntere Sie nicht, jetzt alles schleifen zu lassen, es geht um ein zusätzliches Studienjahr, das ihnen coronabedingt geschenkt wurde.
Nehmen Sie sich dieses Jahr! Genießen Sie es! #OneMoreYear
Referenzen:
1. Schmidt, L. and J. Obergfell, Zwangsjacke Bachelor?! Stressempfinden und Gesundheit Studierender: Der Einfluss von Anforderungen und Entscheidungsfreiräumen bei Bachelor-und Diplomstudierenden nach Karaseks Demand-Control-Modell. 2011: VDM Verlag Müller.
2. Sieverding, M., et al., Stress und Studienzufriedenheit bei Bachelor- und Diplom-Psychologiestudierenden im Vergleich Eine Erklärung unter Anwendung des Demand-Control-Modells. (= Study-related stress and satisfaction in psychology students). Psychologische Rundschau, 2013. 64(2): p. 94-100.
3. Schmidt, L.I., et al., Anforderungen, Entscheidungsfreiräume und Stress im Studium : Erste Befunde zu Reliabilität und Validität eines Fragebogens zu strukturellen Belastungen und Ressourcen (StrukStud) in Anlehnung an den Job Content Questionnaire. Diagnostica, 2019. 65(2): p. 63-74.
4. Schmidt, L.I., et al., Predicting and explaining students’ stress with the Demand–Control Model: does neuroticism also matter? Educational Psychology, 2015. 35(4): p. 449-465.
Anmerkung. Der Beitrag ist textgleich zu der Version, die am 10.3.2021 auf LinkedIn veröffentlicht wurde. Am 6.4.2021 berichtete der „Spiegel“ darüber. Am 10.4.2021 erschien ein Interview mit Monika Sieverding in der „Rhein-Neckar-Zeitung“ (hier das Interview als PDF).