Hans-Ulrich Wittchen: Kein Ruhmesblatt mehr für die Psychologie

TU Dresden)

Wittchen 2015 (Quelle: TU Dresden)

Der Dresdener Kollege Hans-Ulrich Wittchen, der am dortigen Institut für Psychologie von 2000 bis zu seiner Pensionierung 2017 den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie innehatte, war eine Lichtgestalt der deutschen Psychologie: Im Jahr 2015 kürte ihn Thomson Reuters durch Aufnahme in deren Liste „The World’s Most Influential Scientific Minds“ – schließlich gehört er mit >800 Publikationen zu den am meisten zitierten Wissenschaftlern in der Psychologie, Psychiatrie und Neurowissenschaften (im Report „The World’s Most Influential Scientific Minds 2015“ auf S. 103 gelistet).

Die Betonung liegt auf „war eine Lichtgestalt“ – denn der jüngst erstellte Untersuchungsbericht einer unabhängigen Kommission an der TU Dresden unter Leitung des Hamburger Juristen Hans-Heinrich Trute über die schon länger kursierenden Vorwürfe (siehe auch meinen Blog-Beitrag „Skandale“ vom April 2019) enthüllt einen Skandal, der ein tiefes Dunkelfeld um das helle Leuchten der „Lichtgestalt“ legt. Die Rektorin der TU Dresden Ursula Staudinger, die erst  2020 in dieses Amt gewählt wurde und von Hause aus Psychologin ist, zeigt sich in einem gerade veröffentlichten Interview mit Jan-Martin Wiarda „tief erschüttert“ über die „bemerkenswerte, außergewöhnliche, ja unerhörte Konstellation von Verfehlungen. Von den anfänglichen Täuschungen und Datenmanipulationen – es sollten Daten von >90 psychiatrischen Einrichtuingen erhoben werden, aber es waren wohl deutlich weniger Erhebungen als im Bericht geschildert – über die offensichtlichen Bemühungen, diese vor der drohenden Untersuchung zu vertuschen, bis hin zu Bemühungen, die Arbeit der Kommission zu verkomplizieren und zu verlangsamen, wo immer es ging.“

Worum ging es dabei? Der Vorwurf: Wittchen habe Daten einer wichtigen, mit 2.5 Mio Euro vom Bund geförderten Studie zur Personalausstattung psychiatrischer Kliniken gezielt manipulieren lassen (Duplikation von Datensätzen). Es geht dabei um die Zukunft der Versorgung Hunderttausender psychiatrischer Patienten. Der Vorwurf: Schwere Manipulation der Daten, Vertuschungsversuche, Behinderung der Aufklärung – zusätzlich seien Projektgelder für private Zwecke sowie zum Vorteil seiner Tochter zweckentfremdet worden, wie in der ZEIT 09/2021 unter dem Titel „Er hatte absolute Narrenfreiheit“ (Bericht von Marc Scheloske) nachzulesen ist. Dort steht auch der bemerkenswerte Satz: „An einer großen Universität sind nicht alle Professoren geich wichtig.“ Weiter unten dort: „Macht schützt.“ Und noch das hier: „Das lange Schweigen der Mitarbeiter, die in tiefe Abhängigkeiten verstrickt waren.“

Dass in Dresden eine Transfer-Gesellschaft in den Skandal involviert ist, weckt Erinnerungen an unseren Heidelberger Skandal, die „Causa Bluttest„: Auch dort waren z.B. finanzielle Interessen der Verwertungsgesellschaft TTH (Technology Transfer Heidelberg; ist aufgelöst worden; die Nachfolge-Einrichtung heisst nun ScienceValue Heidelberg, SVH, und steht unter universitärer Kontrolle) im Hintergrund zu sehen, die über die wissenschaftliche Redlichkeit gestellt wurden. Geld kann korrumpieren.

Warum macht ein erfolgreicher Kollege mit sicherer Pension und hohem Einkommen so etwas? Noch einmal der ZEIT-Artikel mit einem Auszug aus dem Kommissionsbericht: „Prof. Wittchen wollte auch gegenüber Externen als erfolgreicher erscheinen, als er war.“ Und andere Stimmen sagen – so die ZEIT -, Wittchen neige notorisch zu Übertreibungen und sei „unerschütterlich von der eigenen Grandiosität überzeugt“. Uff!

Rektorin Ursula Staudinger sieht in drei Bereichen notwendige Konsequenzen beim Auf- und Ausbau eines Compliance-Systems, das nunmehr an der TU Dresden aus drei „Säulen“ besteht: (1) klare Regeln für gute wissenschaftliche Praxis (GWP, in einer entsprechenden Satzung verankert und flankiert von einem verpflichtenden Schulungssystem für alle Forschenden); (2) Antikorruptionsbeauftragte bis auf die Fakultätsebene, die finanzielle Vergehen frühzeitig aufspüren; und (3) ein „Whistleblower“-System („eine Anlaufstelle und eigene Beschwerdeperson für Mitarbeiter, die Diskriminierung, Mobbing oder Gewalt erfahren“) in Verbindung mit „Konfliktlotsen“, die bereits im Vorfeld moderieren und mediieren sollen (das machen eigentlich derzeit schon Ombudspersonen wie ich oder Ombudspersonen für Doktoranden).

Von 1984 bis 1990 hatte Wittchen übrigens (als Erstberufung) die Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Mannheim inne. Die Kollegen dort werden sich in der Rückschau glücklich schätzen, dass er wegberufen wurde 🙂

Ich bin gespannt, wie die Affäre weitergeht. Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit Wittchens wird noch geprüft. Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen. Unabhängig davon sollten wir alle darüber nachdenken, wie so eine Fehlentwicklung zu verhindern ist.

Nachtrag 3.3.2021: Die „Deutsche Gesellschaft für Psychologie“ teilt mit, dass sie ein Verfahren gegen Kollegen Wittchen vor dem Ehrengericht der DGPs eingeleitet hat.

Nachtrag 8.4.2021: BuzzFeed.News berichtet unter dem Titel „Staatsanwaltschaft ermittelt nach Fälschungsskandal gegen Top-Psychologen“ über weitere Details dieses unappetitlichen Falles. Auch ScienceMag berichtet international über diesen Fall. Die Ermittlungen der Dresdner Staatsanwaltschaft bleiben abzuwarten.

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