Psychologische Aspekte der Corona-Krise

Für unser in diesem Jahr erscheinendes „Heidelberger Jahrbuch“ habe ich einen kleinen Beitrag zu psychologischen Aspekten der Corona-Krise geschrieben, aus dem ich hier schon mal vorab einen Abschnitt zum Thema „Ist psychologische Forschung bereit zur Politikberatung?“ veröffentlichen möchte: „Der Ausbruch der Corona-Krise zu Beginn des Jahres 2020 hat die gesamte Welt tiefgreifend beeinflusst. Volkswirtschaften wurden in den „lockdown“ versetzt, die Bevölkerung in ihren bürgerlichen Freiheiten beschränkt, zahlreiche Gesundheitssysteme von Nationalstaaten standen am Rande des Zusammenbruchs. In meinem Beitrag geht es um die verschiedenen psychologischen Aspekte bei der Entwicklung der Corona-Krise, wobei zum derzeitigen Stand vor allem Fragen formuliert und weniger Antworten darauf gegeben werden können. Deutlich wird die breite Beteiligung psychosozialer Faktoren am Infektionsgeschehen und an der Bekämpfung der Pandemie. Offen bleibt die Frage, inwiefern psychologische Erkenntnisse robust genug für evidenzbasierte Politikberatung sind. Zumindest basale (theoretisch fundierte) Konzepte erweisen sich m.E. als tauglich. […]

Ist psychologische Forschung bereit zur Politikberatung?

Wann ist Forschung so gut validiert, dass sie sich zur (gut begründbaren) Politikberatung eignet? Die Forscherinnen und Forscher der Leopoldina (2020) haben sich mit ihren Ratschlägen an die Politik aus dem Fenster des Elfenbeinturms gelehnt und geben konkrete Empfehlungen wie z.B. diese hier (S. 3): „Da kleinere Kinder sich nicht an die Distanzregeln und Schutzmaßnahmen halten können, gleichzeitig aber die Infektion weitergeben können, sollte der Betrieb in Kindertagesstätten nur sehr eingeschränkt wiederaufgenommen werden.“ Das scheint mir eine gut vertretbare und verantwortungsvolle Empfehlung zu sein, die allerdings mehr auf gesundem Menschenverstand als auf wissenschaftlichen Befunden über die Infektiosität kleiner Kinder beruht (das wissen wir nämlich nicht genau). Eine mehr aus der Psychologie stammende Empfehlung lautet (S. 10): „Bei den psychischen Folgen und gravierenden Überlastungen müssen sozioökonomische Aspekte und der Mangel an sozialer Einbettung dringend berücksichtigt werden. Zu den besonderen Risikogruppen gehören Alleinerziehende, Migrantinnen und Migranten ohne Sprachkenntnisse, alleinlebende Ältere, psychisch Erkrankte, Pflegefälle und Arbeitslose. In ärmeren und eher bildungsfernen Schichten fehlen tendenziell materielle, psychische und soziale Ressourcen.“ Auch hier fehlen wissenschaftliche Belege und die Empfehlung fällt mit gesundem Menschenverstand zusammen.

Skeptiker wie IJzerman et al. (2020) bezweifeln, dass psychologische Erkenntnisse – auch angesichts der noch nicht überwundenen Replikationskrise, die auf viele empirisch vorgehende Wissenschaftsdisziplinen (nicht nur die Psychologie!) zutrifft – zur evidenzbasierten Politikberatung geeignet seien. Die Autoren schlagen vor, neun verschiedene Stufen von Evidenz zu unterscheiden. Nur die höchste Stufe sollte bei Entscheidungen über Leben und Tod herangezogen werden, aber psychologische Forschung liegt nach Meinung der Kritiker auf deutlich niedrigeren Stufen.

Das Potential der Psychologie zur Politikberatung wird bei IJzerman et al. (2020) nicht bestritten, allerdings kommt eine hohe Skepsis über den gegenwärtigen Evidenzstatus psychologischer Forschung zum Ausdruck. Zu beachten ist dabei, dass sich diese kritische Einschätzung auf die Validität empirischer Befunde bezieht. Daran arbeitet unser Fach nachdrücklich und in geradezu vorbildlicher Weise (so z.B. zu lesen bei Vazire, 2018). Das Potential unseres Faches beschränkt sich aber nicht nur auf die Sammlung verlässlicher Empirie, sondern enthält auch gut bewährte konzeptuelle Differenzierungen. Da zeigen sich die Stärken einer „Theoretischen“ Psychologie (Farrell & Lewandowsky, 2018; Fiedler, 2017, 2018; Gigerenzer, 2011, 2017; Oberauer & Lewandowsky, 2019), die wir bei aller Freude über gute Empirie nicht unterschätzen sollten.“

Literatur:

Farrell, S., & Lewandowsky, S. (2018). Computational modeling of cognition and behavior: Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/CBO9781316272503
Fiedler, K. (2017). What constitutes strong psychological science? The (neglected) role of diagnosticity and a priori theorizing. Perspectives on Psychological Science, 12(1), 46–61. https://doi.org/10.1177/1745691616654458
Fiedler, K. (2018). The creative cycle and the growth of psychological science. Perspectives on Psychological Science, 19(6), 433–438. https://doi.org/10.1177/1745691617745651
Gigerenzer, G. (2011). Personal reflections on theory and psychology. Theory & Psychology, 20(6), 733–743. https://doi.org/10.1177/0959354310378184
Gigerenzer, G. (2017). A theory integration program. Decision, 4(3), 133–145. https://doi.org/10.1037/dec0000082
IJzerman, H., Lewis, N. A., Weinstein, N., DeBruine, L. M., Ritchie, S. J., Vazire, S., Forscher, P. S., Morey, R. D., Ivory, J. D., Anvari, F., & Przybylski, A. K. (2020). Psychological science is not yet a crisis-ready discipline. PsyArXiv. https://doi.org/10.31234/osf.io/whds4
Oberauer, K., & Lewandowsky, S. (2019). Addressing the theory crisis in psychology. Psychonomic Bulletin & Review. https://doi.org/10.3758/s13423-019-01645-2
Vazire, S. (2018). Implications of the credibility revolution for productivity, creativity, and progress. Perspectives on Psychological Science, 19(6), 7. https://doi.org/10.1177/1745691617751884

Quelle des Textauszugs: Funke, J. (im Druck). Entwicklung einer Pandemie: Psychologische Aspekte der Corona-Krise. In J. Funke & M. Wink (Hrsg.), Entwicklung – Wie aus Prozessen Strukturen werden. Heidelberger Jahrbücher Online, 5.

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