Arbeiten in Zeiten von Corona

Was bedeutet es für mich, in diesen schwierigen Zeiten zu arbeiten? Auf diese Frage hin überkommt mich ein leichtes Schämen: Ich geniesse nämlich die eingetretene Entschleunigung und das Wegfallen vieler Termine. Ich schäme mich ein wenig dafür, dass es mir so gut geht in einer Zeit, in der über 10 Mio. Deutsche in Kurzarbeit sind und nicht wissen, wie es mit ihnen weitergehen wird.

Schämen tue ich mich (zumindest ein bisschen…) für die privilegierte Situation des pensionierten Professors, der seine finanzielle Existenz nicht bedroht sieht, dem ein eigenes Arbeitszimmer mit akzeptabler IT-Ausstattung und halbwegs guter Internet-Anbindung zur Verfügung steht, der keine Kinder unterhalten oder beschulen muss, der nicht sein gesamtes Unterrichtsprogramm zu Unterhaltungsvideos machen und der nicht auf engem Raum mit seiner Partnerin zusammenleben muss. So läßt sich zu allem Überfluss sogar aus der Krisenzeit ein Gewinn ziehen – ich komme durchaus zum wissenschaftlichen Arbeiten. Was für ein Privileg!

Apropos IT-Ausstattung: in den diversen Video-Konferenzen, die gerade abgehalten werden, bemerkt man unterschiedliche IT-Ausstattungen und auch unterschiedliche IT-Kompetenzen daran, dass erst mal die aus Versehen schon aktive Kamera und das Mikro vermutlich ungewollte Einblicke in den privaten Alltag gestatten oder die ersten 10 Minuten mit überraschenden Äußerungen wie „ich höre dich“, „ich sehe dich noch nicht“ o.ä. verbracht werden. Technik dominiert z.Zt. noch Inhalte (von den Datenschutz-Diskussionen mal ganz abgesehen). Tatsächlich ist es online schwieriger eine lebhafte Diskussion zu führen, weil das „turn-taking“ erschwert ist. Die eher stilleren Teilnehmenden kommen möglicherweise nicht zu Wort.

Hintergebäude des Psycholog. Instituts OHNE Fahrräder

Hintergebäude des Psycholog. Instituts OHNE Fahrräder (zum Vergrößern anklicken)

Ob sich die Online-Lehre bewährt, wird sich noch zeigen müssen. Eine didaktische Vorbereitung auf diese Umstellung hat kaum stattgefunden, die Dozentinnen und Dozenten sind (genauso wie die Studierenden) ins kalte Wasser geworfen worden. Ich bin und bleibe Fan der Präsenz-Veranstaltungen (siehe meinen Blog-Beitrag von 2016 „Lob der Vorlesung„). Etwas schwankend bin ich allerdings geworden, als ich kürzlich den ersten Teil der (leider nicht öffentlich zugänglichen) Videoproduktion „Vorlesung Diagnostik“ meines Kollegen Jochen Musch (Uni Düsseldorf) gesehen habe. Ich war begeistert! Aber ich glaube, das hat vor allem mit Jochen und seiner Begeisterung für das Fach zu tun!

In Zeiten von Corona gibt es viel, was Sorgen bereitet, aber doch auch manches, das erfreulich ist. Zu letzterem zähle ich ein neues Kolloquiumsformat der Uni Mannheim (organisiert von meinem Kollegen Edgar Erdfelder und Arndt Bröder), das unter dem Titel „One World Cognitive Psychology Seminar“ (OWCPS) offen für alle angeboten wird. Die Themen sind interessant (False Memory; Skill Acquisition; ANOVA Lies; Knowledge Dementors; Response Time Data; Moral Dilemmata), die Vortragenden durchaus prominente Fachvertreter (z.B. Daniel Bernstein, Dayna Touron, Jeff Rouder, Stephen Lewandowsky). Es findet live jeweils Di 17:15-18:45 statt. Die Themen und Termine findet man hier.

Nach den ersten Talks kann ich nur sagen: sehr empfehlenswert! Und wer es zu den Terminen nicht schafft: alle Vorträge werden aufgezeichnet und können zu späterer Zeit in Ruhe angehört werden. Man kann das (inhaltliche) Fortbildungsangebot als Ersatz für manche ausgefallene Konferenz nutzen. Wer in den bereits erfolgten Talk von Dan Bernstein über „False memories“ hineinhören möchte, findet die Aufzeichnung hier. Übrigens kommt eine Frage im Anschluss an seinen Vortrag von Elisabeth Loftus, die sich zugeschaltet hatte (auf dem Youtube-Video ab 1:09:30 ist E.L. zu hören und zu sehen). Tatsächlich „one world“!

In einem Webinar zu psychologischen Aspekten der Corona-Krise habe ich davon gesprochen, dass es momentan eine Sternstunde für die Wissenschaft sei – schon lange nicht mehr wurde der Wissenschaft dermassen viel Raum im politischen Alltag gegeben. Aber seien wir ehrlich: die Konzentration auf die Virologie ist zu einseitig. Die „Stunde der Virologen“ muss durch eine „Stunde der Psychologen“  (und vielfältiger anderer human- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen) ergänzt werden. Ein Starren auf das Virus mit naturwissenschaftlichem Fokus verengt den Blick. Dafür ist die Gemengelage bei weitem zu komplex, als dass man sie auf einige wenige Aspekte reduzieren könnte. Dies macht auch die dritte Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina (mit dem schönen Titel: „Die Krise nachhaltig überwinden“, hier als PDF) deutlich, an der aus unserem Heidelberger Institut Klaus Fiedler mitgewirkt hat.

Und noch etwas, was manche noch lernen müssen: Wissenschaft liefert keine eindeutigen Resultate, sondern die (zumeist vorläufigen) Ergebnisse müssen interpretiert werden. Es braucht „scientific literacy„, um die wissenschftliche Diskussion verstehen und bewerten zu können. Was heisst das? Der Begriff „scientific literacy“ ist im Kontext der PISA-Erhebungen entstanden und wird mit „naturwisschaftlicher Grundbildung“ übersetzt. PISA: Das ist die weltweite Untersuchung von Kompetenzen 15jähriger Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Bereichen: Neben Lese- und Rechenfähigkeiten (reading literacy, math literacy) werden weitere „literacies“ diskutiert und erhoben. „Science“ gehört dazu, „problem solving“ auch (siehe z.B. meinen Blog-Beitrag dazu von 2017); „financial literacy“ ist umstritten, „scientific literacy“ dagegen ist unumstritten: Sie soll helfen, naturwissenschaftliche Fragestellungen zu erkennen, naturwissenschaftliche Phänomene zu erklären und naturwissenschaftliche Evidenzen zu nutzen (so PISA 2006).

Noch einmal: Im Kern ist Wissenschaft die Kunst des Zweifelns und der angemessenen Skepsis! Die Freude etwas entdeckt zu haben ist immer auch verbunden mit der Möglichkeit des Irrtums. Der Wissenschaftstheoretiker Sir Karl Popper meint, dass wir nie wissen, wann wir die „Wahrheit“ in Händen halten, aber dass wir mit dem Instrument der Falsifikation ganz schnell einen Irrtum nachweisen können. Darum geht es nämlich: Nicht jeden Irrtum ausschließen zu wollen, sondern ihn nachweisbar zu machen, wenn man ihn denn begangen hat – das ist die beste Art von Wissenschaft, die ich kenne! Solche Prinzipien leiten mich durch die gegenwärtige Krise und die zahlreichen Einschränkungen, die wir zur Zeit auch als Wissenschaftler hinnehmen müssen (geschlossene Labore, ausfallende Dienstreisen, abgesagte Konferenzen).

Nicht zuletzt hilft mir persönlich ein Satz von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (siehe meinen Blog-Eintrag von 2007 zur Hegel-Gedenktafel am Parkhaus in der Plöck): „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“ – wenn man die Sinnhaftigkeit der Massnahmen versteht, kann man sie viel entspannter akzeptieren…

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