Lob der Vorlesung

Vorlesungen sind eines der Lehrformate, die immer wieder in ihrer Existenz hinterfragt werden, nicht nur von Studierenden, sondern auch von Experten der Unterrichtsforschung. In der Ausgabe 43/2015 der ZEIT ist auf S. 76 ein Interview mit dem von mir sehr geschätzten Kollegen Manfred Prenzel, einem renommierten Unterrichtsforscher und derzeitigen Vorsitzenden des einflussreichen Wissenschaftsrats). Er sagt darin am Ende seines lesenswerten Interviews einen Satz, den ich hier gerne kommentieren möchte: „Um Studenten Wissen zugänglich zu machen, ist die Vorlesung nicht die beste Form.“

Als jemand, der viele Vorlesungen hält (im Winter jeweils drei für die Erstsemester- „Einführung in die Psychologie“, „Einführung in die Erkenntnistheorie“, „Allgemeine Psychologie Teil 1“ -, im Sommer eine für die Zweitsemester- „Allgemeine Psychologie Teil 2“ – und gelegentlich auch noch die Mastervorlesung „Adaptive Kognition“), sehe ich mich ein wenig unter Rechtfertigungsdruck, warum ich das Prinzip Vorlesung trotz solcher Empfehlungen immer noch für gut halte und auch fortsetzen werde.

Vorlesungen kenne ich in verschiedenen Formaten (darunter sind solche, die ich schrecklich finde!). Als junger Student Anfang der 1970er Jahre an der Uni Basel z.B. habe ich Vorlesungen in der Philosophie (und auch in der Psychologie) gehört, wo der Professor ein Buch (*sein* Buch) oder ein Manuskript aufschlug und anfing vorzulesen. Mit dem Stundengong im Kollegienhaus der Universität Basel wurde nach 45 Minuten monotonen Vorlesens (höchstens unterbrochen von ein paar Pausen des Wassertrinkens – das Ritual des Wassertrinkens wurde regelrecht inszeniert: einer von uns Studierenden, meist die hübscheste Doktorandin, wurde zu Semesterbeginn zum Wasserträger auserkoren und stellte jeweils ein volles Glas Wasser zu Beginn der Stunde auf das Pult…) der laufende Satz noch zu Ende gebracht, dann war die Stunde (45 Minuten) vorbei. In der nächsten Stunde wurde an der Stelle fortgefahren, wo in der letzten Sitzung unterbrochen wurde.

Ein schreckliches Format – und ich habe *trotzdem* etwas mitgenommen. Da man keine Fragen stellen durfte, musste ich nacharbeiten: Was ich nicht verstanden hatte, versuchte ich mir aus anderen Quellen zu erschliessen (nicht immer erfolgreich, aber manchmal mit neuen Entdeckungen verbunden). Und bei manchen langweiligen Passagen ließ ich meine Gedanken schweifen…

Ein völlig anderes Format lernte ich (wiederum in Basel) kennen, als 1974 Klaus Schneewind dort eine Lehrstuhlvertretung übernahm: ein junger Professor aus Trier (KS war damals Mitte 30) kam mit „Handouts“, die er zu Beginn seiner Vorlesung verteilte und dann in freier Rede kommentierte! Zu Beginn der Stunde gab er eine kurze Zusammenfassung der letzten Stunde, am Ende der Stunde fasste er die aktuelle Stunde kurz zusammen. Gliederungen und Überblicke gaben eine verständliche Struktur. Das hat mich (und andere auch) sehr angesprochen! Man durfte Fragen stellen, es war in keiner Weise monoton und der Lehrende sprühte vor Begeisterung! Das war ansteckend!

Dieser Vorlesungsstil hat mich geprägt und ich versuche heute das zu machen, was bei mir in meiner Studienzeit Spuren hinterließ. Ich bin dankbar für ein Vorlesungsformat, das mir die Chance bietet, meine Begeisterung für die Themen (oder auch meine Emporung über bestimmte Zustände) an die Studierenden weiterzugeben, Ihnen meine Art zu denken „live“ zu vermitteln, mich beim Abwägen von Pro und Contra zu begleiten. Ich kann es nicht leugnen: ich brauche Zuhörer! Vor einer Kamera hin- und herzulaufen und Gedanken zu entwickeln, manchmal abzuschweifen und dann doch wieder die Kurve kriegen: das kann ich mir nicht vorstellen vor einem leeren Hörsaal, nur vor der Kamera! Das Feedback aus den Gesichtern, die Möglichkeit zum Fragenstellen für die Studierenden, die Möglichkeit des Wiederholens, wenn ich ratlose Gesichter sehe: all das macht eine Vorlesung auch für mich als Dozent lebendig, macht sie zur sozialen Situation mit der Möglichkeit zur Anschlußkommunikation („gehen wir noch einen Kaffee trinken?“).

Die videoübertragene Vorlesung (hier ein paar Beispiele aus Heidelberg bzw. Münster) hat für mich bei weitem nicht die Authentizität der realen Veranstaltung, legt die isolierte Rezeption nahe, bei der Rückfragen entfallen müssen, und hat größere Unterbrechungsrisiken zu ertragen („ich halte das Video mal eben an, um meine Mail zu checken“). Ich werde vorläufig davon keinen Gebrauch machen, jedenfalls nicht als Ersatz für die Vorlesung. Als zusätzliche (aufwändige) Option für Personen, die aus verschiedensten Gründen nicht präsent sein können, ist eine Videographie allerdings vorstellbar. Dafür fehlen uns allerdings derzeit die Ressourcen!

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