Psychotherapie bewerten? Ja, aber richtig

Kürzlich las ich in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 21./22.6.25 einen Beitrag von Christian Weber mit dem Titel Mit Anstand leiden, in dem es um das Thema „Psychotherapie-Erfolg“ ging. Der Beitrag thematisiert die Grenzen moderner Psychotherapie und Psychopharmaka im Umgang mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen. Trotz aufwendiger Studien zeigen sich nur moderate Heileffekte, oft mit hohen Rückfallquoten und Nebenwirkungen. Die Wirksamkeit neuer Ansätze wie Psychedelika wird zwar untersucht, deren Wirkung bleibt aber begrenzt. Statt Heilung wird zunehmend ein sinnerfülltes Leben trotz Symptomen angestrebt. Psychiater plädieren dafür, Leid als Teil des Lebens zu integrieren – also mit Anstand zu leiden. – Passend zu diesem Thema ist gerade ein neues Handbuch erschienen:

Edgar Geissner, Stefan Koch, & Manfred Schmitt (2025). Psychotherapieerfolg messen und beurteilen. Ein Handbuch. Kohlhammer.

Ich habe mir dieses Buch genauer angesehen, unter anderem deswegen, weil ich mit zwei der drei Autoren (Edgar Geissner und Manfred Schmitt) in den 1970er Jahren in Trier Psychologie studiert habe und mit den Autoren, die ich sehr schätze, auch befreundet bin. Ob ich deswegen befangen bin, mögen Lesende selbst entscheiden. Nach DFG-Kriterien liegt jedenfalls keine anzuzeigende Befangenheit vor.

Das 344 Seiten umfassende Buch besteht aus 8 Kapiteln (1: Therapieerfolg messen und beurteilen – thematische Hinführung; 2: Methodische Grundlagen: eine kleine Auffrischung zum Einstieg in die Messung und Beurteilung des Therapieerfolgs; 3: Die Verfahren zur Erfolgsbeurteilung – störungsspezifisch von A wie Agoraphobie bis Z wie Zwang; 4: Störungsübergreifende Verfahren zur Therapieerfolgsbeurteilung; 5: Multidimensionale Verfahren zur Therapie Erfolgsbeurteilung; 6: Skalen zur Messung von Einfluss- und Begleitfaktoren für das Therapieergebnis; 7: Therapieerfolgsbeurteilung in der Praxis; 8: Künftige Themen mit Auswirkungen auf die Therapieerfolgsbeurteilung), einem umfassenden Literatur- und einem differenzierten Stichwort-Verzeichnis.

Kann man Therapieerfolg überhaupt messen und wenn ja: wie? Der erste Satz dieses Buches sieht das sehr positiv: „Die Bestimmung des Erfolgs durchgeführter Psychotherapien ist relativ unaufwändig, nicht schwierig und macht, wenn man die Ergebnisse sieht, im Allgemeinen viel Freude“ (S. 11). Wer das schreibt, sind 2 Psychotherapeuten (EG, SK) und 1 Methodiker (MS).

Zu den einzelnen vorgestellten Verfahren vermag ich wenig zu sagen – den PANAS (ein Fragebogen zur Erfassung positiver und negativer Affekte) allerdings (S. 196f.) habe ich in eigenen Studien eingesetzt und kann daher die Einschätzung als „besonders empfehlenswert“ mit Wohlgefallen zur Kenntnis nehmen.

Warum „Handbuch“? Das Buch ist weniger zum Durchlesen als zum Nachschlagen gedacht: „Praxisbedürfnisse und -erfordernisse stehen dabei im Vorder-, Wissenschaft und Forschung im Hintergrund“ und „Die Darstellung im Dienste der psychotherapeutischen Alltagspraxis hat Priorität“ (S. 11).

Ob die auf S. 279 ausgesprochene Empfehlung, Fälle mit nichtpathologischen Eingangswerten auszuschließen, um nicht zu einer Unterschätzung des Behandlungseffekts zu kommen, wirklich sinnvoll ist, scheint mir diskutabel – ich selbst würde bevorzugen, alle Fälle vollständig zu dokumentieren.

Kapitel 8.5 (S. 308f.) fasst nochmal die vorgestellten Prinzipien zur Qualitätsbeurteilung zusammen. Ich vermute, dass nicht alle Personen, die psychotherapeutisch arbeiten, dieser Kriteriensammlung zustimmen werden. Aber wertvoll sind diese Prinzipien sicher! So wie es in der Medizin unterschiedlich fundierte Leitlinien zur Diagnostik, Therapie und Evaluation für bestimmte Störungsbilder gibt (siehe hier), sollte es auch in der Psychotherapie Standards geben (der „Gemeinsame Bundesausschuss“ G-BA und das „Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im GesundheitswesenIQTIG versucht seit mehreren Jahren, verbindliche Standards durchzusetzen).

Ich erinnere mich in dem Zusammenhang an eine – inzwischen 40 Jahre alte – Publikation mit dem 2023 verstorbenen Günter Krampen von 1985, in der es um Katamnese-Standards ging (Funke, J., & Krampen, G. (1985). Kann und soll man die Durchführung von Katamnesen standardisieren? Bemerkungen zum Entwurf der “Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie” über “Standards für die Durchführung von Katamnesen bei Abhängigen.” Suchtgefahren, 31, 246–250). Damals waren wir kritisch aufgestellt. Wir schrieben (S. 249): „Zusammenfassend ist festzustellen, dass die vorgelegten ‚Standards‘ aus den dargelegten Gründen weder praktikabel noch wünschenswert erscheinen.“ Das würden wir heute wahrscheinlich differenzierter sehen…


Fazit: Soweit ich das als Nicht-Praktiker (ich bin kein praktizierender Psychotherapeut und habe auch keine entsprechende Ausbildung) beurteilen kann, liegt ein hilfreiches Handbuch vor, das einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung in der psychotherapeutischen Praxis leisten könnte, wenn die im Buch gemachten Vorschläge befolgt würden!

Ich wünsche dem Buch viel Erfolg, der sich auch in angemessenen Verkaufszahlen niederschlagen möge!

PS: Es gibt von jeweils 2 der 3 Autoren kurze Zeitschriftenbeiträge zum Thema:

Geissner, E., & Koch, S. (2021). Von A wie Angst bis Z wie Zwang – Störungsspezifische Messinstrumente zur Evaluation von Psychotherapie (Erwachsene). Psychotherapeutenjournal, 20(4), 312–322.
Geissner, E., & Schmitt, M. (2023). Fug und Unfug in der Auswertung von Psychotherapien. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 55(1), 95–108.

Keine Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Archive
Kategorien