Beim nachfolgenden Gastbeitrag habe ich zunächst gezögert, weil er ein paar lobende Aussagen in bezug auf meine Person enthält – dafür sollte dieser Blog nicht dienen. Dennoch habe ich mich zur Publikation entschlossen, weil mich die netten Worte natürlich gefreut haben und es in erster Linie um die Sache der „Theoretischen Psychologie“ geht, die Alexander Wendt ein Herzensanliegen ist.
Gastbeitrag „Widerständiges Denken: Die theoretische Psychologie bei Joachim Funke“. Von Dr. Alexander Wendt
In den letzten Tagen ist meine Exmatrikulation erfolgt. Damit schließt sich ein achtjähriges Kapitel meiner Lebensgeschichte. Es begann, als ich anlässlich des sog. „Erstsemester Kompaktseminars“ zum ersten Mal den für Hermann von Helmholtz errichteten Friedrichsbau unseres Heidelberger Psychologischen Instituts betrat. Zur Einführung waren wir Frischlinge noch in der ersten Woche vor dem Auftakt des ersten Semesters dazu aufgefordert, uns mit dem Institut vertraut zu machen. Meine erste Wahl für die Begehung der Arbeitseinheiten fiel auf die Allgemeine Psychologie. In offener Runde sitzend sollte ich zu diesem Anlass zum ersten Mal von einem charmanten, stets vergnügten und motivierten Professor in den Bann gezogen werden, den ich seit letztem November meinen Doktorvater nennen darf: Joachim Funke.
Seit dieser – für mich schicksalshaften – ersten Kontaktaufnahme mit Joachim Funke habe ich mich bei allen akademischen Belangen auf ihn verlassen können. Zwei Bachelor- und zwei Masterarbeiten (jeweils eine psychologische und eine philosophische) konnten entstehen, weil mir von ihm das Gefühl vermittelt wurde, dass Querdenker und Waldgänger wie ich in der Psychologie einen Platz haben. Dieser Platz trägt den denkwürdigen Namen „theoretische Psychologie“ und ich freue mich, dass ich mit Stolz den Studierenden, die heutzutage am Beginn jedes Wintersemesters in das ‚Erstsemester Kompaktseminar‘ kommen, selbst davon berichten kann, dass in der Psychologie die theoretische Arbeit einen besonderen, wenn auch vernachlässigten Platz hat.
Was die ‚theoretische Psychologie‘ ist, ist strittig. Dieser Satz sollte auf zwei Weisen verstanden werden. Erstens ist es im direkten Sinne strittig, worum es sich handelt, wenn ‚theoretische Psychologie‘ angesprochen wird. Mancher mag ein Analogon zur theoretischen Physik vermuten: Also die Bemühung um eine Vereinheitlichung, gewissermaßen die Suche nach übergeordneten Strukturmustern bis hin zur Weltformel. Es ist nicht zu leugnen, dass die theoretische Psychologie auf diese Weise betrieben worden ist. Ein aller Ehren wertes Beispiel ist die Arbeit von Johannes Lindworsky und seiner Schülerin Maria Krudewig (die ihrerseits Lehrerin des großen Heidelberger Psychologen Carl Friedrich Graumann gewesen ist). Lindworskys „Theoretische Psychologie im Umriss“ (1926) ist ein Beispiel für den Versuch, eine globale Ordnung der Seele darzustellen. Das mag Zeitgenossen lächerlich erscheinen, spielt in der geistesgeschichtlichen Genese der modernen Psychologie aber eine sachdienliche Rolle.
Andere mögen die ‚theoretische Psychologie‘ für einen meta-wissenschaftlichen Lückenbüßer halten. ‚Theoretische Psychologie‘ leistet dann nicht mehr als die Modelle, die Methoden und die Geschichte der Disziplin zu beschreiben. Mithin ist die ‚theoretische Psychologie‘ in diesem Sinne nichts weiter als ein weiterer Arm des Hekatoncheiren Psychologie: Es werden dann empirische Untersuchungen über das Forschungsverhalten von Psychologinnen und Psychologen angestellt – und die ‚theoretische Psychologie‘ rückt in die Nähe der Wissenschaftssoziologie.
Meine Sichtweise widerspricht beiden Lagern. Sie lässt sich auf den zweiten Sinn der Strittigkeit gründen: Nicht nur die Form, sondern der Gehalt der theoretischen Psychologie selbst ist strittig, denn die Disziplin der Psychologie befindet sich, wie bereits Karl Bühler entdeckte, in einer Strukturkrise. Das bedeutet, dass der Streit in der Psychologie kein Übergangsphänomen oder das Anzeichen einer jungen, ihre Form suchenden Wissenschaft ist, sondern wesentlich zu ihr gehört. Die „Krise in der Psychologie“ ist keine Bürde, sondern ihr revolutionäres Potenzial. Theoretische Psychologie ist deswegen, um einen Ausdruck von Jochen Fahrenberg zu leihen, eine ‚Systematik der Kontroversen‘. Die theoretischen Psychologinnen und Psychologen sind dabei manchmal Schiedsrichter, manchmal müssen sie den Streit aber auch anfachen, widerständig denken. In jedem Fall muss die theoretische Psychologie die urwüchsige Leidenschaft dieses hundertarmigen Riesen, der Psychologie heißt, erwecken – eine Leidenschaft, die uns Psychologen eigen ist, weil unser Gegenstand nicht bloße Materie unter dem Mikroskop (oder im fMRT) ist, sondern der lebendige Mensch!
Dass seit Joachim Funkes Emeritierung kein deutscher Lehrstuhl mehr den Titel ‚theoretische Psychologie‘ führt, ist bedenklich. Hyperbolisch ließe sich als Variation auf Martin Heideggers berühmte Vorlesung „Was heißt Denken?“ (1951/52) sagen: ‚Das Bedenklichste ist, dass die Psychologie nicht mehr denkt‘! Die ‚theoretische Psychologie‘ führt eine schattenhafte Existenz. Damit ist nicht nur ihre institutionelle Vernachlässigung gemeint, sondern auch ihre – beinahe – unzeitgemäße Form: Theoretische Psychologie findet eher in Büchern als in Zeitschriften statt, ist eher langatmig als hyperventilierend. Theoretische Psychologinnen und Psychologen schlagen auf der Suche nach kontroversen Positionen lieber den Weg durch das Dickicht ein und verstaubte Bücher auf, als dem Mainstream Vertrauen zu schenken. Gewissenhafteren Geistern mögen sie als Scharlatane gelten, doch der Ansporn der theoretischen Psychologie ist selbstlos: Sie will die Glut des lebendigen Geistes entfachen! Dies habe ich von Joachim Funke gelernt.