„Aristotelischer Eid“ für Psychologen?

Mediziner haben ihren „Hippokratischen Eid„, mit dem sie sich verpflichten, ihr Wissen zum Wohl der Menschen einzusetzen und niemanden zu schädigen – warum hat die Psychologie für ihre Absolventinnen und Absolventen nichts Vergleichbares? Wäre es nicht angesichts zahlreicher bekannt gewordener Verstöße auch von Psychologen gegen ethische Grundprinzipien an der Zeit, über einen fachspezifischen Eid nachzudenken? Mich beschäftigt dieser Gedanke schon lange (siehe z.B. einen 10 Jahre zurückliegenden Blog-Eintrag).

Aristoteles

Aristoteles

Wer könnte unser Namensgeber sein? Der griechische Arzt Hippokrates (460-370 v.C.) steht mit seinem Namen für die Medizin – für die Psychologie haben wir niemanden, der sich explizit als Psychologe hätte verstanden wissen wollen. Oder doch? Wie wäre es mit einem anderen berühmten Griechen, dem Philosophen Aristoteles (384-322 v.C.)? Immerhin verdanken wir ihm mit der Nikomachischen Ethik eine der ersten expliziten Ethiken der westlichen Welt. Darin hat er auch zahlreiche Gedanken über die Seele hinterlassen (Schaubild hier). Und seine Tugendlehre enthält viele Grundsätze der modernen Positiven Psychologie. Seine zweiwertige Logik ist für die Denkpsychologie bedeutsam. Wenn nicht explizit, so doch implizit dürfte Aristoteles von unserer Zunft als berühmter Psychologe angesehen werden.

Wie könnte ein „Aristotelischer Eid“ für Psychologen formuliert sein? Schauen wir uns doch zum Vergleich erst einmal den Hippokratischen Eid an. Die Medizinerzunft diskutiert seit ein paar Jahren den Vorschlag, den historischen Eid, der noch dem Gott Apollon huldigt, zeitgemäßer zu machen. Hier ist ein Ausschnitt aus den neu vorgeschlagenen Formulierungen, ausgearbeitet von der Arbeitsgruppe (Eidkommission) des schweizerischen Instituts „Dialog Ethik„, einer Non-Profit-Organisation in Zürich (die nachfolgenden Auszüge stammen aus deren Webseite „Schweizer Eid„):

„In der Ausübung meines Arztberufes verpflichte ich mich, wie folgt zu handeln:

  • Ich übe meinen Beruf nach bestem Wissen und Gewissen aus und nehme Verantwortung für mein Handeln wahr.
  • Ich betrachte das Wohl der Patientinnen und Patienten als vorrangig und wende jeden vermeidbaren Schaden von ihnen ab.
  • Ich achte die Rechte der Patientinnen und Patienten, wahre grundsätzlich ihren Willen und respektiere ihre Bedürfnisse sowie ihre Interessen.
  • Ich behandle die Patientinnen und Patienten ohne Ansehen der Person[1] und halte mich an das Arztgeheimnis.
  • Ich begegne den Patientinnen und Patienten mit Wohlwollen und nehme mir für ihre Anliegen (und die ihrer Angehörigen) die erforderliche Zeit.
  • Ich spreche mit den Patientinnen und Patienten ehrlich und verständlich und helfe ihnen, eigene Entscheidungen zu treffen.
  • Ich behandle die Patientinnen und Patienten nach den Regeln der ärztlichen Kunst und den aktuellen Standards, in den Grenzen meines Könnens, instrumentalisiere sie weder zu Karriere- noch zu anderen Zwecken und mute ihnen nichts zu, was ich mir selbst oder meinen Nächsten nicht zumuten würde.
  • Ich betreibe im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten eine Medizin mit Augenmass und empfehle oder ergreife nur Massnahmen, die sinnvoll sind.
  • Ich wahre meine Integrität und nehme im Besonderen für die Zu- und Überweisung von Patientinnen und Patienten keine geldwerten Leistungen oder andersartigen Vorteile entgegen und gehe keinen Vertrag ein, der mich zu Leistungsmengen oder -unterlassungen nötigt.
  • Ich verhalte mich gegenüber Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen korrekt und wahrhaftig, teile mit ihnen mein Wissen und meine Erfahrung und respektiere ihre Entscheidungen und Handlungen, soweit vereinbar mit den ethischen und wissenschaftlichen Standards unseres Berufs.“

[1] «Ohne Ansehen der Person» heisst: ohne Diskriminierung wegen Geschlecht, allfälliger Behinderung, Religion, sexueller Orientierung, Parteizugehörigkeit, ethnischer Herkunft, Sozial- oder Versicherungsstatus und Nationalität.

Eine ganze Reihe solcher Formulierungen könnten wir auch in einen „Aristotelischen Eid für Psychologinnen und Psychologen“ übernehmen, finde ich. Das Schwierige besteht aus meiner Sicht darin, die sehr heterogenen Anwendungsfelder unseres Faches unter einen Hut zu bekommen: der gute Umgang mit Patientinnen und Patienten ist selbstverständlich, aber wir müssen dabei auch die Werbepsychologen oder die im Personalbereich Tätigen miteinbeziehen. Diese Heterogenität macht das Finden eines gemeinsamen Nenners schwieriger.

Hugo Münsterberg (zunächst Leipzig, Heidelberg und Freiburg, später Harvard) könnte uns vielleicht weiterhelfen. Er hat 1908 ein Buch unter dem Titel „Philosophie der Werte“ veröffentlicht, in dem er zum einen eine Theorie der Werte präsentiert, zum anderen sich mit speziellen Werten genauer auseinandersetzt. Er unterscheidet Grundwerte (Weltall, Menschheit, Über-Ich), Lebenswerte (Daseins-, Einheits-, Entwicklungs- und Gotteswerte) und Kulturwerte (Zusammenhangs-, Schönheits-, Leistungs- und Grundwerte). Letztere könnten die Quelle einer entsprechenden berufsethischen Verpflichtung liefern. Münsterberg bringt den Begriff der Sittlichkeit ins Spiel, der das Handeln leiten sollte: „Was durch Recht und Gewissen geschützt and gefestigt wird, muB wechseln und mag vergehen; ewig wertvoll bleibt nur, daB das Gewollte in Mitwelt und Innenwelt sicher geschützt wird. Nur durch das Becht betätigt die Gesellschaft, und nur durch die Sittlichkeit betätigt die Persönlichkeit ihr eigenes Wollen in ihrem Handeln. Sich selbst zu betätigen, in Freiheit sich selber treu zu bleiben, und so Wollen und Handeln identisch zu setzen, bedeutet aber für Gesellschaft und Persönlichkeit, daB in ihnen sich eine selbständige Wirklichkeit entfaltet, daB sie nicht nur Erlebnis, sondern Werte sind.“ (Philosophie der Werte, S. 394).

Vielleicht findet sich ja jemand, der einen Vorschlag für einen Psychologen-Eid macht? Ich fände diesen Gedanken sehr erfreulich! Es würde ja bedeuten, dass wir als Psychologen im Nachdenken über unser Tun neben die permanente Mehrung unseres Wissens auch die Reflexion von dessen Anwendung stellten. Wissen und Werte zusammenführen: eine schöne Idee, oder?

Hier weitere Links zum Thema (Dank an Anne Scheel):

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