Zur Psychologie des Fanatismus

Ein neues Sachbuch ist erschienen, über das ich berichten möchte: „Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus“, verfasst 2016 von Ernst-Dieter Lantermann, Emeritus für Sozialpsychologie an der Universität Kassel. Er hat sich in seinem neuen Text dieses höchst aktuellen und bedeutsamen Themas angenommen.

Um es gleich vorweg zu sagen: es ist aus meiner Sicht ein lesenswertes Werk geworden! An fünf Themenfeldern illustriert er das, was er “selbstwertdienliche Unsicherheitsreduktion“ nennt: die Entstehung von Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhass; das Wohnen in geschlossenen Wohnkomplexen („gated communities“); der Rückzug in kleine soziale Welten; die Perfektionierung des eigenen Körpers durch Body Building, Schönheitsoperationen und Piercing; die Entscheidung zur sinnstiftenden Mahlzeit.

In allen Themenfeldern sieht der Autor vergleichbare Mechanismen am Werke, die zu Radikalisierungen führen: das Erleben einer unsicheren Welt, die Angst erzeugt und den Selbstwert des Einzelnen in Frage stellt. Der dann einsetzende Mechanismus „Komplexitätsreduktion“ schafft wieder Boden unter den Füßen und lässt mich die Welt zusammen mit Gleichgesinnten wieder als beherrschbar und verständlich erscheinen. Andere Meinungen und Fakten werden ausgeblendet und ignoriert.

Wichtig sind die Differenzierungen, die Lantermann immer wieder darlegt. So sieht er etwa Fremdenfeindlichkeit gespeist aus verschiedenen Motivlagen heraus, wie z.B. die „Gruppe der verhärteten Selbstgerechten“, die gut situiert sind, über ein robustes Selbstbewusstsein verfügen und sich nach besseren Zeiten zurück sehnen, wo alles noch einfach war; die „Gruppe der Beleidigten“, die in prekären Verhältnissen leben und sich ungerecht behandelt fühlen; die „Gruppe der Verbitterten“, die ebenfalls in prekären Verhältnissen lebt und die sich etwa im Vergleich mit Muslimen, die andere Werte als die Verbitterten haben, wieder selbst wertschätzen können. Am Beispiel der Vegetarier wird deutlich gemacht, wie verschiedene Stufen des Fanatismus entstehen und wie auf einmal Veganismus zu einem selbstwertdienlichen Lebensstil wird (Essen als Weltanschauung).

Was macht das Buch lesenswert? Zum einen ist es gut verständlich geschrieben – die wissenschaftlichen Quellen und vertiefenden Erläuterungen sind in den Anhang verschoben und stören den Lesefluss nicht. Zum zweiten werden psychologische Mechanismen und Prozesse in anschaulicher Weise beschrieben und machen psychologische Theorien lebendig. Vor knapp 30 Jahren ist es Dietrich Dörner gelungen, mit seinem Werk „Logik des Misslingens“ (1987) eine allgemeinverständliche Beschreibung des Forschungsfeldes „Komplexes Problemlösen“ zu liefern (bis heute empfehle ich es allen Personen, die wissen wollen, womit ich mich beschäftige). Mit dem vorliegenden Werk tritt Ernst-Dieter Lantermann erneut den Beweis an, dass psychologische Vorstellungen verständlich dargestellt werden können; sein Buch belegt den Erklärungswert sozio-psychologischer Theorien und Befunde. Ich wünsche seinem Werk viele Leserinnen und Leser sowie positive Resonanz!

Ernst-Dieter Lantermann (2016). Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus. München: Blessing.

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