Große gesellschaftliche Herausforderungen

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Am 24.4.2015 hat der Wissenschaftsrat (WR; seit 2014 unter dem Vorsitz von Manfred Prenzel, TU München) in Stuttgart ein Positionspapier zum Thema „Zum wissenschaftspolitischen Diskurs über Große gesellschaftliche Herausforderungen“ vorgestellt (zum Download: hier), das viele interessante Anregungen enthält. Die Stellungnahme beansprucht, „Desiderate für den Umgang von Wissenschaft und Wissenschaftspolitik mit Großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu formulieren“ (S. 5). Das ist – nicht nur in Hinblick auf die in 2017 kommende dritte Runde der Exzellenzinitiative – von besonderem Interesse: Die großen Förderorganisationen der Wissenschaft (wie DFG, MPG, FhG), aber auch der Bund und die Länder lesen in diesem Papier Erwartungen an die Wissenschaft (und an die Wissenschaftsförderer), die die Ressourcenverteilung, neue Forschungsformate sowie generell das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft betreffen und uns als Wissenschaftler daher interessieren müssen.

Ausgangspunkt der Überlegungen sind sog. Große gesellschaftliche Herausforderungen (GgHn, das große G soll den stehenden Begriff markieren; international verwendete Bezeichnungen sind „societal challenges“ oder „grand challenges“), die nach unserem Begriffsverständnis als „wicked problems“ (der Begriff stammt von Rittel, 1972, und bezeichnet komplexe Probleme) verstanden werden können und die sich „durch hohe Komplexität, Vernetztheit, Zielpluralität und Unschärfe“ (S. 16) auszeichnen.

Beispiele für die damit gemeinten gesellschaftlichen Herausforderungen sind Klimawandel, Energieversorgung, Wasseressourcen, Welternährung, Altern, Gesundheit, Ressourcenverknappung, Friedenssicherung – Problemfelder, für die keine einfachen und vor allem keine kurzfristigen Lösungen in Sicht sind. Viele Akteure sind beteiligt, haben ganz unterschiedliche Informationslagen und vor allem unterschiedliche Interessen. Kompromisslösungen, die Gerechtigkeit herstellen sollen, sind nicht in Sicht, weil schon beim Konzept „Gerechtigkeit“ der Streit beginnt: Die verschiedenen Spielarten (z.B. Verteilungsgerechtigkeit oder Generationengerechtigkeit) führen jeweils zu anderen Ergebnissen und machen Diskussionen notwendig.

Im europäischen Forschungsraum hat die EU-Kommission für ihr Förderprogramm „Horizon 2020“ etwa 40% der gesamten Fördersumme von insgesamt knapp 80 Milliarden Euro für die Beschäftigung mit „societal challenges“ bereitgestellt (also rund 30 Mrd €). Darunter versteht die EU inhaltlich folgende konkrete Themen: „Health, demographic change and wellbeing; food security, sustainable agriculture and forestry, marine and maritime and inland water research, and the bioeconomy; secure, clean and efficient energy; smart, green and integrated transport; climate action, environment, resource efficiency and raw materials; Europe in a changing world, inclusive, innovative and reflective societies; secure societies – protecting freedom and security of Europe and its citizens“. Eine lange Liste!

Zum Themenkomplex „neue Forschungsformate“ werden Stichworte wie „Reallabore“ oder „citizen science“ (Bürgerforschung, dh. Beteiligung von Akteuren ausserhalb der Wissenschaft an Forschung) erwähnt und der Unterschied zwischen erkenntnisorientierter und lösungsorientierter Forschung betont. Unter dem Leitbild „transformativer Wissenschaft“ (z.B. Schneidewind & Singer-Brodowski, 2014; siehe auch den das Buch begleitende Blog) wird eine spezielle Sicht von Wissenschaft beschrieben: Der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WGBU) hat 2011 transformative Wissenschaft definiert als die Wissenschaft, die „Umbauprozesse durch spezifische Innovationen (…) befördert. Sie unterstützt Transformationsprozesse konkret durch die Entwicklung von Lösungen sowie technischen und sozialen Innovationen; dies schließt Verbreitungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Möglichkeiten zu deren Beschleunigung ein und erfordert zumindest in Teilen systemische Betrachtungsweisen sowie inter- und transdisziplinäre Vorgehensweisen, darunter die Beteiligung von Stakeholdern“ (WBGU, 2011, p. 374).

Der Wechsel von staatsgetriebener Forschung (z.B. Atomkraft in den 60er Jahren) über industriegetriebene Forschung (z.B. Humanisierung der Arbeitswelt) zur zivilgesellschaftlich getriebenen Forschung: Wie können Bürgerinnen und Bürger ihre Interessen an Forschung einbringen? Was sind die zivilgesellschaftlichen Interessen an Forschung? Die Frage nach einem glücklichen, friedlichen, gesunden Leben („subjektives Wohlbefinden„) könnte dabei aus unserer psychologischen Sicht eine wesentliche Rolle spielen.

Was sind nun die Desiderate, die der WR in Bezug auf die GgHn formuliert? In sieben Unterkapiteln werden die Bedürfnisse im Umfeld von GgHn beschrieben.

(1) Zunächst ist für die Identifikation zukünftiger GgHn ein gesellschaftlicher Verständigungsprozeß notwendig, der politisches Handeln bestimmt. Kommunikation und Partizipation spielen dabei eine wichtige Rolle.

(2) Das Zusammenführen und Integrieren verschiedener Wissensquellen stellt einen weiteren Bedarf dar, der mehr bedeutet als die Verwendung des Wörtchens „interdisziplinär“. Ob man gleich zum Mittel des „text mining“ greifen will, sei dahingestellt – ich denke, Integration muss anders erfolgen (und zwar über Nachdenken).

(3) Das Erkennen und Offenlegen der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis. Erkenntnisse sind oft nicht eindeutig (schadet Kaffee dem Herzen oder nicht?). Man findet häufig Pro- und Kontra-Argumente. Dies bedeutet nicht nur das Offenlegen von möglichen Interessenkonflikten, sondern auch Selbstkritik in bezug auf eigene Erkenntnisse. Selbst Wissenschaftler machen Fehler 🙂

(4) Koordinationsmechanismen sind bei komplexen Problemen eher nicht-hierarchisch, nicht-direktiv und dezentral. Instrumenten- und Perspektivenvielfalt ist wichtiger als Homogenität. Das bedeutet einen gewissen Verlust an Kontrolle, zugleich aber möglichen Gewinn an Kreativität.

(5) Die Selbstkorrekturfähigkeiten im Wissenschaftssystem müssen gestärkt werden. Gleichzeitig sollen Vielfalt und Freiheit der Forschung nicht eingeschränkt werden. Wissenschaftlich fundierte Sachstandsanalysen sollen dabei helfen.Der Hype um manche Forschungsthemen geht zulasten solider aber „leiser“ Forschung (ein Beispiel ist das spektakulär inszenierte Human Brain Project, von dem die EU schon nach kurzer Anlaufphase gerade eine Neuausrichtung verlangt [siehe auch meinen Blog-Eintrag dazu]).

(6) Die Mitwirkung von Akteuren ausserhalb der Wissenschaft an Forschungsaktivitäten sollte mitbedacht werden, da die GgHn umfassende gesellschaftliche Veränderungsprozesse anstossen, die alle Akteure betreffen und sie daher von Anfang an einbeziehen sollten.

(7) Eine Stärkung der globalen Perspektive („Think global, act local“) mit dem Aspekt der Global Governance, also der Staaten-übergreifenden Abstimmung, da GgHn fast immer grenzüberschreitende Themen darstellen und Interessen Dritter berühren.

Ist das ganze nur ein Papiertiger? Zunächst mal ja! Um so ein Papier lebendig werden zu lassen, müssen Dinge in die Tat umgesetzt werden. Die Anstöße sind da, das Tun fehlt noch. Aber es wäre nicht fair (und den GgHn unangemessen), einfach nur zuzusehen und nicht auch selbst aktiv zu werden. Veränderungsprozesse fangen immer mit ersten kleinen Schritten an. „Schritte“ heisst: man muss sich bewegen, aus der Deckung herauskommen. Sonst werden eines Tages aus den GgHn die MGgHn – die Mega-Großen gesellschaftlichen Herausforderungen.

Kritische Reaktionen gibt es auch schon, die in diesem Transformationskonzept einen Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft sehen und die Fremdbestimmung von Forschungszielen befürchten (siehe z.B. hier). Das sollte natürlich nicht passieren. Aber seien wir ehrlich: schon heute sind Teile der Drittmittelforschung nicht mehr völlig frei von Interessenkonflikten, und für Gutachten zur Stützung der einen Position finden sich Gegengutachten, die eine andere Sicht stark machen. Wahrheitssuche ist eben ein schwieriges Geschäft. Wer Angst vor Fremdsteuerung hat, darf nicht nur transformative Wissenschaft kritisieren, sondern muss die herrschenden Forschungsstrukturen hinterfragen.

Das WR-Papier wird hoffentlich einen breiten Diskurs auslösen! Mich hat es schon mal zum Nachdenken gebracht. Ich arbeite an einem HCE-Antrag zu Reallaboren mit! [NACHTRAG Dezember 2015: Antrag wurde leider abgelehnt]

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