Am 5.6.14 fand in der vollen Alten Aula die diessemestrige interdisziplinär ausgerichtete Marsilius-Vorlesung statt. Als Gastredner war Felix Schürmann (ETH Lausanne, Schweiz) geladen zum Thema „Wettlauf ums Gehirn? Das europäische Human Brain Project“. In einem interessanten Vortrag erläuterte der Referent zentrale Punkte des Großvorhabens, das die drei Säulen Neuroscience, Neuromedizin und Neurocomputing umfasst (die dritte Säule Neurocomputing wird übrigens massgeblich in Heidelberg durch den Co-PI und Physiker Karlheinz Meier repräsentiert, der im letzten Jahr den Festvortrag auf unserem „Tag der Freunde“ hielt).
Das „Human Brain Project“ (HBP) ist (neben dem Graphene-Projekt) eines der beiden Flaggschiff-Projekte der EU. Flaggschiff-Projekt bedeutet: ausgewählt in einem mehrjährigen kompetitiven Verfahren, werden unter der Leitung von Henry Markram (dem Erfinder der open-access Plattform „Frontier„) über 100 Arbeitsgruppen aus 24 Ländern zusammenarbeiten. Dafür gibt es verteilt auf 10 Jahre die spektakuläre Fördersumme von 1.000 Millionen Euro! Wow!
[Quelle: http://www.exascale.org/bdec/sites/www.exascale.org.bdec/files/whitepapers/mohr.pdf]
Die Vision von Henry Markram heisst letztlich „understanding the brain“ – dabei heisst „Verstehen“ hier vor allem Verstehen der bio-neuro-physiologischen Abläufe. Die Vision in eigenen Worten:
The goal of the Human Brain Project is to build a completely new information computing technology infrastructure for neuroscience and for brain-related research in medicine and computing, catalysing a global collaborative effort to understand the human brain and its diseases and ultimately to emulate its computational capabilities. [Quelle: HBP Vision, from https://www.humanbrainproject.eu/]
Die Dringlichkeit des HBP wird vor allem über Krankheiten des Gehirns motiviert, z.B. über Kopfschmerzen oder neurodegenerative Störungen wie Alzheimer, über die man am Ende etwas aussagen und mit einem Computermodell Ansatzpunkte für mögliche Behandlungen finden möchte. Ein Drittel der Europäer sei von hirnbezogenen Krankheiten bedroht, etwa 800 Milliarden Euro Schaden (inkl. Folgekosten) entstünde dadurch jährlich (interessante Quelle: Gustavsson et al., 2011). Zugleich reduzierten die Pharma-Konzerne ihre diesbezügliche Forschung, da die Entwicklungskosten neuer Medikamente im Bereich von 1 Mrd US$ lägen und 9 von 10 Neuentwicklungen scheiterten.
Dieses angestrebte Computermodell baut das Gehirn fast „ab initio“ nach („from genes to cognition“): beginnend mit dem Informationsfluss in Ionenkanälen bis hin zur Erregungsdynamik einzelner Zell-Ensembles „local field potentials„), zunächst als Modell eines Mäusegehirns und in der Schlussphase des 10jährigen Vorhabens auch als Modell eines Menschengehirns.
[Quelle: http://www.exascale.org/bdec/sites/www.exascale.org.bdec/files/whitepapers/mohr.pdf]
Kritikpunkte
Was sind meine Kritikpunkte an dem Großprojekt? Big Science hat eine Reihe von Vorteilen, aber auch deutliche Nachteile. (1) Einer davon ist das „vereinheitlichende Modell“, das alle Beteiligten bindet. Die Grenzen dieses Modells sind die Grenzen des dort Erfahrbaren. Unter Kreativitätsaspekten eine klare Beschränkung! Hier wären 1.000 Grassroot-Projekte mit ganz heterogenen Ansätzen im Vorteil, mit einem dieser Ansätze einen wirklichen Durchbruch zu erreichen. Verdrängt normierte BigScience kreative MiniScience? Brauchen wir viele Davids oder einen Goliath?
(2) Ein anderes Problem ist die Kooperation durch gemeinsame Publikationen – gerade für jüngere Wissenschaftler ist im gegenwärtigen System eine Erstautorenschaft attraktiv. Bei >1000 Beteiligten ist der individuelle Anteil schwer auszumachen. Wird am Ende der Egoismus einzelner Wissenschaftler siegen? Berufen werden am Ende immer einzelne herausragende Personen, nicht die ganze Gruppe.
(3) Dass man sich zunächst auf die Modellierung eines Mäusegehirns beschränkt, hat forschungsethische Gründe: Am Mäusegehirn können Dinge gemacht werden, die wir am Menschengehirn aus ethischen Gründen nicht zulassen können. Aber inwiefern die anschließend geplante Übertragung vom Mäuse- auf das Menschengehirn wirklich einen validen Schluss erlaubt, wird zu zeigen sein. Ich kenne eine Reihe von Vorhaben, bei denen dieser Transfer erhebliche Probleme bereitet hat.
(4) Eine Modellierung des Gehirns „from scratch“ oder „ab initio“ ist dieser Forschungansatz nicht wirklich! Hierfür wäre ein Entwicklungsmodell erforderlich, das zunächst den Aufbau des Gehirns (und dann dessen späteren Abbau) beschreibt. Die jetzige Statik befriedigt mich nicht. Gerade in der Interaktion mit einer Umwelt, die spezielle Reize zur Verarbeitung bietet und bestimmte Verarbeitungsmechanismen zur erfolgreichen Bewältigung fordert (Stichwort „Heuristiken“), kann die Entwicklung solcher Systeme von großer Bedeutung sein. Es ist ja bedeutsam, dass ausgerechnet bei Primaten über viele Lebensjahre hinweg in intensiver Bindung von Eltern und Kind die Hirnentwicklung begleitet wird.
(5) Der Einbezug der Umwelt und die Berücksichtigung sozialer Faktoren: Wer das Gehirn als „Beziehungsorgan“ sieht (wie unser Heidelberger Kollege Thomas Fuchs das vorschlägt), muss den hier vollzogenen Reduktionismus ebenfalls kritisch sehen. Dass bestimmte Strukturen des Gehirns im sozialen Austausch (nicht zuletzt dank Sprache) entstehen, wird man nicht erkennen können, wenn man nur das nackte Gehirn für sich betrachtet. Embodied Cognition geht anders! Das Gehirn ist – anders als Herz oder Leber – ein „soziales“ Organ.
(6) Zugänglichkeit der Daten: Alle in diesem Vorhaben erhobenen Daten sollen auf insgesamt sechs Plattformen (Neuroinformatics, Brain Simulation, High-Performance Computing, Medical Informatics, Neuromorphic Computing, Neurorobotics) zugänglich gemacht werden. Allerdings dürfte es nur wenigen Forschergruppen möglich sein, die großen Datenmengen angemessen weiter zu verarbeiten – hier warten womöglich Pharma-Konzerne auf ihre Stunde. In den USA wartet übrigens das Militär (die DARPA, die die amerikanische Hirnforschung grosszügig unterstützt) ganz unverhohlen auf diese Entwicklung 🙂
(7) Reproduzierbarkeit: Angeblich soll es gerade in Großprojekten wie diesem die Chance zur Überprüfung von Ergebnissen durch andere Forscher geben. Das scheint mit Blick auf ein anderes Großprojekt CERN (der Large Hadron Collider in Genf) fraglich: Welche unabhängige Forschergruppe hat ein zweites CERN2 zur Verfügung, um die Ergebnisse von CERN1 zu prüfen? Welche andere Hirnforschungsgruppe hat auch nur 10 Millionen zur Hand, um Befunde unabhängig zu replizieren? (Dass es abhängige Replikationen geben wird, ist hoffentlich eine Selbstverständlichkeit, aber psychologische Forschung zeigt, dass da eine erhebliche Differenz – knapp 30% in der Bestätigungsrate – zwischen Selbst- und Fremdprüfung besteht; vgl. Makel, Plucker & Hegarty, 2012).
Bei aller Begeisterung, die gelegentlich aufkommt (ich bin prinzipiell zu begeistern, wenn geforscht wird) – Ich stimme meinen Mitarbeitern zu: Das Human Brain Project ist faszinierend! Allerdings wird umso deutlicher die Notwendigkeit, es um ein Human Mind Project zu erweitern! Schade, dass dafür so schnell keine 1.000 Millionen Euro aufzutreiben sind…
PS: Der Vortragstitel „Wettlauf ums Gehirn“ spielt darauf an, dass nur wenige Wochen nach der Bekanntgabe der EU-Entscheidung über das Flaggschiff-Projekt der EU Präsident Barack Obama in den USA ein amerikanisches Riesenprojekt unter dem Titel „Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies (BRAIN)“ gestartet hat – Wert: allein im ersten Jahr 2014 >100 Mio US$, neben anderen Hirn-Großprojekten wie OneMind, Allen Institute und Human Connectome. Australien möchte da nicht fernbleiben und startet mit AUSbrain seine eigene Initiative mit angeblich 250 Mio AUS$. Andere große Nationen sind angeblich ebenfalls in den Startlöchern.
siehe auch meine Blog-Einträge zu früheren Marsilius-Vorlesungen:
2013 Marsilius-Vorlesung mit Onur Güntürkün “Evolution des Denkens”
2012 Marsilius-Vorlesung mit Edna Foa über posttraumatische Belastungsstörungen
2011 Marsilius-Vorlesung mit Gerd Gigerenzer: Denken lernen! Sapere aude!
2010 Marsilius-Vorlesung SS 2010 mit Jörg Widmen zur Kreativität
2009 Auftaktveranstaltung zum Marsilius-Projekt “Climate Engineering” mit David Keith
2009 Marsilius-Vorlesung mit Dieter Grimm zum Thema „Kunstfreiheit“
2008 Auftaktveranstaltung des Marsilius-Kollegs mit Günter Blobel zur „Zelle als Kunstwerk“
Nachtrag 19.6.2014: Das Interview von Janina Schuhmacher mit Felix Schürmann und mir ist in „Ruprecht“ (Nr 150) erschienen.
Nachtrag 9.7.2014: Am 7.7.2014 haben führende Neurowissenschaftler Kritik am HBP vorgetragen und die EU aufgefordert, nach Abschluss der Startphase eine kritische Zwischenevaluation vorzunehmen. Die Kritik in Form eines offenen Briefs an die Europäische Kommission findet sich hier: http://www.neurofuture.eu/
Nachtrag 1.3.2017: Kritischer Kommentar: https://medium.com/the-spike/blueprint-for-a-billion-euros-the-brain-on-a-chip-project-caa2ad85d118#.42buboamc