Meinungsmache statt Wissenschaft?

Wissenschaft soll zur Aufklärung des Menschen über die Welt um uns herum und in uns dienen. Das ist ein schweres Geschäft – die Geschichte der Wissenschaft zeigt uns eine jahrhundertelange Tradition von fehlerhaften wissenschaftlichen Konzepten (Stichwort „Phlogiston„). Daher sollte man als Wissenschaftler ein gewisses Maß an Skepsis gegenüber den eigenen Erkenntnissen sowie denjenigen von Kolleginnen und Kollegen walten lassen, da sich unsere Nachfolger in 100 Jahren vielleicht köstlich amüsieren über unsere naiven Fehlvorstellungen.

Wie kommt es, dass es doch immer wieder Fälle gibt, in denen vermeintlich sichere Erkenntnisse mit großem Tamtam auf den Medienmarkt geworfen werden? Ist es der Narzissmus der Wissenschaftler, die aus der medialen Aufmerksamkeit Kapital schlagen wollen? Ist es das Gewinnstreben von Autoren und Verlagen? Schwer zu sagen.

Ein interessanter Fall ist das neue Buch von Manfred Spitzer über „Digitale Demenz„, das gerade kontrovers diskutiert wird. In der ZEIT vom 6.9.12 ist eine Diskussion zwischen Spitzer und dem Medienwissenschaftler Peter Vorderer abgedruckt, über die es bei „Spiegel online“ heisst:

Im Wissen-Teil diskutieren der Psychiater Manfred Spitzer und der Medienpsychologe Peter Vorderer in einem fetzigen Gespräch über die Wirkung von Computern und Internet auf Jugendliche. Spitzer vertritt, wie in seinem Buch „Digitale Demenz“, die Position, Computerspiele machten dick, dumm und gewalttätig, Vorderer bezeichnet ihn dafür als „Sarrazin der Computerkritik“ und plädiert für eine schulische Medienbildung. Darauf Spitzer: „Wenn ich das schon höre: Medienbildung! Es geht doch nur darum, die Kinder anzufixen!“

Ich selbst finde Vorderers Einwände gegen die vorschnelle Stigmatisierung von Computernutzung durch Kinder und Jugendliche gut nachvollziehbar. Und die Vermittlung von Medienkompetenz hat in meinen Augen nichts mit „Anfixen“ zu tun. Vorderer wirft Spitzer vor, die wissenschaftliche Literatur nicht gut recherchiert zu haben. Wie steht es um die Wissenschaftlichkeit der Aussagen von Manfred Spitzer?

Ich selbst kann das nur für einen kleinen Ausschnitt seiner vollmundig vorgetragenen Thesen prüfen – und da komme ich zu bedenklichen Einsichten! Ich beziehe mich auf ein früheres Buch von ihm, in dem unter dem Titel „Medizin für die Bildung“ (2010) für die verstärkte Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Gestaltung von Bildungsprozessen geworben wird. In diesem Buch gibt es einen kurzen Abschnitt über die PISA-Studien (S. 12-20), den ich mir genauer angesehen habe. Mein Urteil: hier wurde schlecht recherchiert! Drei Beispiele:

(1) Auf S. 17 seines „Medizin“-Buches kritisiert Spitzer die Bildungsforschung ganz pauschal: „Man kann sich weder auf Sachverhalte, noch auf einen Kanon von Fragen und Methoden einigen. Man publiziert nicht in Fachzeitschriften mit Peer-Review-System, wenn man denn überhaupt publiziert.“ – Dass Sachverhalte, Fragestellungen und Methoden kritisch diskutiert werden, ist in meinen Augen Zeichen einer entwickelten und selbstkritischen Disziplin, keinesfalls eine Schwäche. Und dass die empirische Bildungsforschung – wenn überhaupt – nicht peer-reviewed publiziert, ist schlicht falsch! Publiziert wird – wie ein kurzer Blick in die einschlägige Datenbank PsycINFO mit dem Stichwort „PISA“ zeigt – eine ganze Menge, und zwar in (peer-reviewed) internationalen Fachzeitschriften (z.B. American Educational Research Journal, Educational and Psychological Measurement, European Educational Research Journal, European Journal of Personality, European Journal of Psychology of Education, European Journal of Vocational Training, European Psychologist, Intelligence, International Journal of Science Education, Learning and Instruction, Perspectives on Psychological Science, Psychological Science, Psychological Test and Assessment Modeling, Psychometrika, Studies in Educational Evaluation). Diese Recherche hätte nicht mehr als 3 Minuten Zeit gekostet, wurde aber wohl unterlassen – die Ergebnisse hätten nicht zum Vorurteil gepasst.

(2) Über PISA heißt es auf S. 18: „Die Möglichkeit der Einsichtnahme in die Originaldaten durch andere Wissenschaftler ist in vielen Disziplinen Standard; nicht bei PISA.“ – das ist schlicht falsch! Es gibt wohl kaum eine weltweite Studie, deren Daten so breit zugänglich gemacht wurden wie PISA. Details zu den nationalen Daten findet man hier und auch hier, zu den internationalen Datensätzen hier. (Sogar interaktives Ausprobieren ist möglich.) Diese gute Verfügbarkeit erklärt im Übrigen auch, warum es – entgegen Spitzers Behauptungen – zahlreiche kritische Darstellungen gibt, deren Re-Analysen auf den zugänglich gemachten Datensätzen beruhen. Hier gibt es keine Geheimhaltung wie in der Medizin, wo die meisten pharmakologischen Studien etwa als Betriebsgeheimnis gehütet werden und Aussagen nicht nachprüfbar sind.

(3) Über die Folgen von PISA auf S. 19: „Umso mehr verwundert, was alles nach PISA – und unter Berufung auf PISA – geschehen ist. So wurde eigens ein Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen gegründet, dessen alleinige Aufgabe es ist, noch mehr Tests zu entwickeln, durch welche die bekannten Unterschiede in der Bildung (nach Bundesländern, nach sozialen Schichten, nach Migrationshintergrund, nach Schulart etc.) noch besser abgebildet werden.“ – Die Entwicklung von Messverfahren ist ein wichtiges Ziel empirischer Forschung, das sollte gerade ein Mediziner anerkennen. Wenn ich zum Arzt gehe, wird heute mehr an mir gemessen als mit mir gesprochen; das finde ich aber auch ganz ok, weil damit empirische Grundlagen für eine angemessene Beurteilung und Behandlung geschaffen werden. Die von Spitzer vorgetragene Kritik an der Entwicklung von Messverfahren kann ich nicht teilen. Sie ist nach meinem Dafürhalten Ergebnis einer Fehleinschätzung.

Fazit: Eine kleine Stichprobe vielleicht, aber schon für diesen kleinen Ausschnitt gilt: Falsche und fehlerhafte Aussagen finden sich hier gehäuft! Für Spitzers Ruf als sorgfältig recherchierender Wissenschaftler spricht das leider nicht – im Gegenteil drängt sich der Eindruck auf, dass hier ganz bestimmte Vorurteile ohne Abgleich mit der Wirklichkeit lautstark herausposaunt werden und Behauptungen anstatt von Belegen die Argumentation stützen. Das ist nicht die Art von Wissenschaft, die wir in den empirischen Wissenschaften wie der Psychologie schätzen. Meinungsmache sollten wir Politikern überlassen, Wissenschaft lebt von der sachlichen, möglichst vorurteilsfreien Betrachtung und Einbeziehung aller vorhandenen Erkenntnisse. Das ist hier nicht der Fall und stärkt damit den Verdacht von Peter Vorderer, dass auch die „Digitale Demenz“ ähnliche Schwächen aufweist.

PS: Da Spitzer – fälschlich – der Bildungsforschung mangelndes Peer-Review vorwirft, nur mal kurz die Frage: Wer hat eigentlich Spitzers Medizin-Buch gegengelesen? Ausser ein paar „buddies“, denen im Vorwort gedankt wird, scheint es jedenfalls keine kritischen Reviewer gegeben zu haben. „Buddy Reviewing“ als neuer Standard? Nach diesen Erfahrungen wohl kaum!

PPS: Eine kritische Zerlegung der Thesen zur „Digitalen Demenz“ findet sich in folgendem Beitrag:

Appel, M., & Schreiner, C. (2014). Digitale Demenz? Mythen und wissenschaftliche Befundlage zur Auswirkung von Internetnutzung. Psychologische Rundschau, 65, 1-10.

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