Kreativität im Unternehmen

In der eben erschienenen April-Ausgabe 2012 des Journals „Human Resources Manager„, einem Fachmagazin für Personalmanager, habe ich ein Interview zum Thema „Querdenker, Humor bei der Arbeit und Kreativitätsbremsen“ gegeben. In dem von Jan Weilbacher inhaltlich schön zusammengestellten und optisch ansprechend gestalteten Themenhaft für Praktiker im Personalbereich findet sich der folgende Text (das Interview führte Jan C. Weilbacher), der hier wiedergegeben ist für alle diejenigen, die das Magazin noch nicht abonniert haben.

Herr Funke, kann jeder Mann und jede Frau theoretisch eine bahnbrechende Idee entwickeln?

Rein theoretisch würde ich sagen: Ja, warum nicht? Tatsächlich findet das aber selten statt. Bahnbrechende Ideen werden nicht alle fünf Minuten auf den Tisch der Weltöffentlichkeit gelegt, sondern brauchen häufig sehr lange und werden dann auch nur von wenigen kreativen Köpfen vorgelegt. Aber prinzipiell hat jeder das Potenzial zur Kreativität. Ob das dann jeweils für eine nobelpreisreife Entdeckung reicht – das, was wir „Big C“, die „große“ Kreativität nennen – oder ob es eher um ein „kleines C“ geht, also zum Beispiel die Idee, wie ich den Mülleimer, der klemmt, wieder funktionsfähig mache – das ist die Frage. Für das kleine C hat, glaube ich, jeder von uns die Anlage. Für das große C muss man hart arbeiten.

Ich frage mal anders: Kann jeder Kreativität lernen? Oder hat es eher mit Begabung und Intelligenz zu tun?

Aus Sicht der Psychologie würden wir sagen, dass Kreativität eine gewisse Mindestintelligenz voraussetzt. Der amerikanische Intelligenzforscher Robert Sternberg hat mal gesagt: Jenseits des IQ von 120 kann man erwarten, dass die Menschen kreative Potenziale freisetzen könnten – wenn die Randbedingungen stimmen. Und es spielt dann keine Rolle mehr, ob der IQ eines Menschen 120, 130 oder 140 ist.

Wenn also die Mindestintelligenz vorhanden ist, ist dann das Potenzial zur Kreativität eher eine Frage der Situation als der Persönlichkeit?

Kreativität ist ein Produkt verschiedener Faktoren. Zum einen gehört eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur dazu. Kreative Menschen neigen häufig dazu, ihre Welt sehr eigenwillig zu interpretieren. Das sind nicht immer die angenehmsten Personen. Neben der Persönlichkeit spielen aber auch situative Merkmale eine Rolle. Der Einzelne braucht ganz bestimmte Anregungsbedingungen, um kreativ sein zu können. Das heißt nicht nur, dass ich am Strand von Hawaii liegen und vor mich hinträumen kann. Wir wissen zum Beispiel, dass sogar in kriegerischen Notsituationen ungeheure kreative Entwicklungen unter existenziell bedrohlichem Druck zu Tage kamen. Die situativen Randbedingungen sind so vielfältig, dass man gar nicht sicher sagen kann, welche gegeben sein müssen, damit jemand kreativ ist. Vielleicht hilft Ihnen der Strand, auf wunderbare Ideen zu kommen. Ein anderer braucht vielleicht eher Drucksituationen, um sich gut zu entfalten.

Aber in einem Unternehmen dürfte es schwierig sein, den jeweils passenden individuellen Faktor zu stärken, damit der Einzelne sich kreativ entfalten kann. Was sind denn essenzielle Rahmenbedingungen, die stimmen müssen?

Auf jeden Fall kann man sagen, dass permanente Evaluation bzw. Überprüfung durch Vorgesetzte eine besonders wirksame Kreativitätsbremse darstellt. Wir leben in einer Welt, in der viel evaluiert wird – was ich prinzipiell auch für sinnvoll halte –, allerdings ist hier die Frage nach dem richtigen Maß zu stellen. Wenn jede Stunde mein Rektor die Frage stellt, ob ich auf dem Weg zum Nobelpreis schon einen Schritt weitergekommen bin, empfinde ich das als sehr störend. Wenn er hingegen einmal im Jahr von mir einen Zwischenbericht verlangt, ist das eventuell schon eher eine angemessene Form der Überprüfung und Kontrolle. Wir wissen, dass es Randbedingungen gibt, die Kreativität zerstören. Die können wir klar benennen. Dazu gehört zum Beispiel der Druck durch Vorgesetzte. Das heißt aber umgekehrt nicht, dass ich meinen Mitarbeitern überhaupt nicht mehr auf die Pelle rücken und sie fragen darf, ob sie Fortschritte machen. Man muss abwägen, in welchem Maß die Kontrolle beim Einzelnen sinnvoll ist und wo sie anfängt, dysfunktional zu werden.

Was man öfter liest, ist, dass jemand Sicherheit braucht und Spaß haben muss, um kreativ zu sein. Sehen Sie das auch so?

Ein interessanter Artikel meines australischen Kollegen Robert Wood behandelt die Rolle des Humors in Unternehmen. Er macht deutlich, dass viele Unternehmen gar nicht erkennen, welche Chancen zur Freisetzung kreativer Potenziale sie hätten, wenn sie mehr Humor am Arbeitsplatz zuließen. Das finde ich eine interessante Beobachtung. Robert Wood weist nach, dass es tatsächlich viele Parallelen zwischen Kreativität und Humor gibt. Beispielsweise lacht man häufig über überraschende Wendungen, an die man gar nicht gedacht hat. Der Witz ist witzig, weil er eine Pointe enthält, die wir nicht erwartet haben. Humor ist also eine gute Randbedingung für Kreativität. Er provoziert einen spielerischen Umgang mit Ideen. Genau dies könnte der Moment sein, auf den wir warten.

Kreativität bedeutet also erstmal, eine neue Idee zu haben?

Ja, Kreativität heißt, eine neue Idee zu entwickeln. Und mit entwickeln meine ich, sie von der ersten Idee so weit voranzutreiben, dass ich sie nachher nutzen kann. Es gibt in der Kreativitätsforschung schöne Belege dafür, dass Leute Entdeckungen gemacht haben, die zunächst überhaupt nicht richtig erkannt wurden. Ich denke da zum Beispiel an den ersten Fotokopierer in den 40er Jahren, der von Unternehmen zunächst abgelehnt wurde, weil sie nicht wussten, wozu „Elektrofotografie“ (so hieß das in der Anfangszeit) gut sein soll. Das zeigt, man kann eine tolle kreative Idee haben, aber wenn die Umwelt überhaupt nicht darauf reagiert, dann muss man für seine Idee kämpfen. Viele kreative Ideen versickern, weil sie an der Umwelt scheitern.

Sie haben mal gesagt, Sie halten Kreativität für eine der wichtigsten Eigenschaften des Menschen. Warum denken Sie das?

Ich glaube, dass wir Kreativität brauchen, wenn wir große Probleme angehen und lösen wollen, von denen es viele auf der Welt gibt. Ich nenne nur mal das Nahrungsproblem der Menschheit und die globale Erwärmung. Und wenn wir nicht die wirklich besten Ideen zusammentragen, werden wir über kurz oder lang in enorme Schwierigkeiten für unsere ganze Spezies geraten. Die Entdeckung der Solarzelle ist beispielsweise für mich so ein substanzieller Fortschritt für die Menschheit gewesen. Das war definitiv ein Big C, ein wirklich kreativer Moment, der uns einen großen Schritt weitergebracht hat.

Kann man denn sagen, dass Kreativität eher im Austausch mit anderen entsteht als wenn ich alleine vor mich hin tüftele?

Das ist schwer zu sagen. In letzter Instanz kommen die kreativen Ideen immer von einzelnen Personen. Die Gruppe kann trotzdem ein Nährboden sein. Sie kann mich anregen, mich provozieren, ein Stück antreiben. Von daher hat eine Gruppensituation oft Vorteile. Doch am Ende bleibt die kreative Entdeckung die Entdeckung einer einzelnen Person. Trotzdem wird seit einiger Zeit viel Wert auf die richtige Zusammensetzung von Teams gelegt. Man strebt eine kreative Mischung an: Alt und Jung, Frau und  Mann sowie verschiedene Nationalitäten und Fachrichtungen. Sie sollen sich gegenseitig befruchten aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit. Die Entwicklung in Richtung divers zusammengesetzter Gruppen ist sicher hilfreich. Diversity Management hat eine ganz wichtige Funktion bei der Erzeugung von kreativen Ideen. Denn unterschiedliche Hintergründe erzeugen zum Beispiel bei Ideenrunden vielfältigeres Material. Wenn man nur Leute nimmt, die alle den gleichen Erfahrungshorizont haben, ist die Menge an Ideen, die beim Brainstorming zusammenkommen, sehr überschaubar.

Trotzdem sagen Sie, dass die kreative Idee in letzter Instanz von der einzelnen Person kommt. Das überrascht mich dann doch, dass die Gruppe eher eine Nebenrolle spielt.

Die Gruppe spielt durchaus eine wichtige Rolle. Denken wir an den Künstler. Das wichtigste Feedback, das ein Künstler braucht, sind die Urteile der Kollegen. Das wichtigste Urteil, das ich als Wissenschaftler zu meiner Arbeit brauche, ist das Urteil meiner Fachkollegen. Die Bedeutung der sogenannten Peer Group ist für die Feedback-Phase enorm. Gruppen spielen also beim Entstehen sowie beim anschließenden Beurteilen von Ideen sicherlich eine hilfreiche Rolle. Aber am Ende ist es meine Idee, die ich den Peers vorlege. Der kreative Akt liegt letztlich beim Individuum. Ich teile jedoch Ihre Meinung, dass der Einzelne die Gruppe braucht.

Sind denn kreative Persönlichkeiten das, was man so im Volksmund Querdenker nennt?

Es ist ein Kennzeichen kreativer Persönlichkeiten, dass sie generell weniger angepasst sind. Das muss man als kreativer Mensch auch sein. Denn wenn ich angepasst bin, versuche ich nicht, etwas Neues zu machen, sondern mich weitgehend in den konventionellen Bahnen zu bewegen. Die Kreativen brechen aus diesen Konventionsbahnen absichtlich aus und verhalten sich damit aus der Perspektive der anderen als Abweichler. Das kann natürlich auch anstrengend sein. Aber man muss das aushalten können. Obgleich es gerade in einem Unternehmen schwierig werden kann, wenn Hierarchien ein Querdenken verhindern. Dann stößt man irgendwann auf die Frage, was Vorrang hat: die Hierarchie oder die gute Idee? Es ist sicherlich kein Zufall, dass kreative Unternehmen häufig eher flache Hierarchien haben.

Steht das klassische Firmensystem, das auf Weisung und Hierarchie fußt, der freiheitsliebenden Kreativität entgegen?

Wenn man die Geschichte der Kreativität betrachtet, hat es in jedem Jahrhundert kreative Fortschritte gegeben. Ich würde deshalb keine pessimistische Prognose zu unseren kreativen Potenzialen äußern. Im Gegenteil: Wir leben in einer Welt, in der noch nie so viele Anregungen für jeden Einzelnen zur Verfügung standen. Das Wissen, das man für kreative Leistungen braucht, ist heute viel leichter verfügbar als früher. Die Chancen für weitere kreative Entwicklungen sind deshalb groß.

Aber grundsätzlich steht doch das klassische Unternehmenssystem, das auf Weisung und Hierarchie fußt, der freiheitsliebenden Kreativität entgegen, oder?

Genau. Das ist einer der Hauptwidersprüche. Ökonomische Institutionen sind ja zunächst einmal auf Effizienz ausgerichtet. Deshalb wäre es für diese gut, wenn man sagen könnte, morgens von 8 bis 9 Uhr bist du kreativ und ab 10 Uhr arbeitest du an der Umsetzung deiner Idee. So geht es aber nicht. Das hat man früher vielleicht auch anders gehandhabt. Man war tendenziell länger bereit, Dinge erstmal zu tolerieren, die sich nicht sofort gerechnet haben. Heute sind die Zeitspannen kürzer geworden. Der Erfolgsdruck ist höher. Und das ist kontraproduktiv für kreative Entwicklung. Durch einen hohen Effizienzdruck wird der eigene Innovationsfluss abgegraben. Es gibt aber auch andere Institutionen, die weniger unter dem Diktat der Effizienz stehen.

Zu diesen Institutionen gehören vermutlich – mit Einschränkung – auch Bildungsinstitutionen. Kann man denn zum Beispiel schon bei Kindern in Kindergärten und Schulen Bedingungen setzen, damit sich deren Kreativität bestmöglich entfalten kann?

Unbedingt. Man sollte den Kindern vor allem Mut zu ihrer eigenen Kreativität machen. Kreativität ist eine Entscheidung! Wir müssen Kindern und Jugendlichen Mut machen, ihre eigenen kreativen Entscheidungen zu treffen. Das muss man im Erziehungssystem etablieren. Im Moment tun wir noch nicht genug. Manche sagen sogar, Schule ist ein System, das Kreativität abtötet. Kinder haben bei der Einschulung eine Neugier und eine Lust auf Neues, die man nicht durch stures Festhalten an konventionellen Lehrmethoden zerstören sollte. Wir müssen diese Neugier der Kinder möglichst lange erhalten.

[das vollständige Interview als verkleinerter Scan auf DIN A4]

Kategorien:

Archive
Kategorien