Seit der Sarrazin-Debatte „Deutschland schafft sich ab“ ist das Interesse am Thema Intelligenz wieder aufgeflackert. Zwei gerade neu erschienene Bücher dokumentieren das sehr deutlich:
- Michael Haller & Martin Niggeschmidt (Hrsg.) (2012). Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz – Von Galton zu Sarrazin: Die Denkmuster und Denkfehler der Eugenik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Dieter E. Zimmer (2012). Ist Intelligenz erblich? – Eine Klarstellung. Hamburg: Rowohlt Verlag.
In beiden Büchern geht es um die Frage, inwiefern genetische Determinanten die Intelligenz beeinflussen bzw. festlegen.
Das Buch von Dieter E. Zimmer ist wohltuend sachlich gehalten und trägt viele Quellen zusammen, die nachvollziehbar und verständlich präsentiert werden. Seine Quintessenz: Es gibt eigentlich in der Fachöffentlichkeit keinerlei Zweifel daran, dass Intelligenzleistungen, wie sie z.B. mit IQ-Tests (aber auch mit PISA-Aufgaben!) gemessen werden, genetisch bedingt sind. Dabei ist keinesfalls die 50:50-Aufteilung im Anlage und Umwelt die gesicherte Zahl, sondern ein deutliches Übergewicht der Genetik mit 70:30. Aber: diese Befundlage bedeutet keineswegs, das unser individueller IQ von Geburt an determiniert ist. Tatsächlich gibt die Genetik dem Individuum ein Fenster vor, das je nach Anregungsbedingungen unterschiedlich weit geöffnet werden kann. Zimmers Buch überzeugt durch seine nüchterne Sachlichkeit und den Verzicht auf vorschnelle politische Schlussfolgerungen. Die Komplexität der Materie „Intelligenz“ kommt angemessen zur Geltung.
Der von Michael Haller und Martin Niggeschmidt herausgegebene Reader prüft in 10 Einzelbeiträgen die im öffentlichen Diskurs wiederholt vorgetragene Aussage „In der Sache kann man Sarrazin nicht widerlegen.“. Eine erste Gruppe von Beiträgen rekonstruiert die von Sarrazin benutzten Quellen und ordnet sie ein. Dabei wird die Parallelität zum Buch von Herrnstein & Murray (1994) „The Bell Curve“ ganz evident. Eine zweite Gruppe von Beiträgen prüft die These der angeborenen Intelligenz und kommt dabei zu dem Befund, dass die dafür geltend gemachten Daten kritisch betrachtet werden müssen. Der dritte Teil stellt den gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhang der Sarrazin-Debatte her und zeigt als dahinter stehendes Motiv „die Verteidigung bürgerlicher Vorrechte durch die Exklusion missliebiger Sozialgruppen“ (so Thomas Etzemüller).
Die Stärke dieser Beiträge ist es, die politische Motivation der Verwendung wissenschaftlicher Befunde aufzuzeigen – daneben wird zugleich sichtbar, dass eine ganze Reihe von ideologisch motivierten Aussagen wissenschaftlich nicht haltbar sind und auf Missverständnissen bzw. fehleranfälligen Grundannahmen beruhen. So wird z.B. berichtet, dass die Stichprobenselektion für Studien mit eineiigen Zwillingen, die getrennt aufwachsen, einen Bias zugunsten der ähnlicheren Zwillinge besitzen dürfte, da diese in besonderer Weise auffallen und daher mit höherer Wahrscheinlichkeit in eine Stichprobe kommen, verglichen mit unähnlichen getrennt aufgewachsenen EEZ. Deutlich wird auch die politische Verquickung von Wissenschaft und Politik am Beispiel des umstrittenen Pioneer Fund und der tendentiell rassistischen Fachzeitschrift „Mankind Quarterly“ herausgearbeitet.
Das Geflecht von Bildung, Genetik und Intelligenz lässt sich nicht einfach aufklären – dafür sind die Zusammenhänge viel zu komplex und bis heute nicht wirklich vollständig entschlüsselt. Noch nicht einmal für so einfache Dinge wie den Flynn-Effekt (=erhebliche Zunahme der IQ-Punkte über Generationen hinweg, verbesserte Ernährung? Hirnwachstum? zunehmende Test-Wiseness? bessere visuelle Fähigkeiten?) haben wir eine allseits akzeptierte Erklärung…
PS: Warum ich das hier berichte? Über das Thema der Erblichkeit von Intelligenz haben Detlev Rost (Marburg), Frank Spinath (Saarbrücken) und ich unter Leitung von Burkhard Müller-Ulrich (Köln) am 13.2.12 von 17:05-17:50 im SWR2-Forum diskutiert. Die Sendung kann hier abgerufen werden.