Gedächtnis: Eine Liebeserklärung

Gedächtnis: Ist das nicht das Ding, was mich permanent im Stich lässt? Ich sehe ein Gesicht und mir fällt partout nicht ein, woher ich es kenne und wie die Person heißt. Ich bekomme einen Anruf der Zahnarzthelferin, warum ich meinen vereinbarten Termin nicht eingehalten habe – Mist, vergessen! Und als ich nach zwei Wochen Urlaub wieder mal Electronic Banking machen wollte und mein Passwort dafür eingeben sollte, wurde ich nach drei Fehlversuchen gesperrt…

Wie ungerecht wir sein können! Auch wenn wir uns darüber ärgern, dass uns unser Gedächtnis gelegentlich hängen lässt: Wie oft funktioniert es still und lautlos als kleiner Helfer! Ein Speicher, der nie an seine Grenzen stößt, von dem ich kein Backup machen muss, der mit kleinsten Häppchen auf die Suche nach dem großen Ganzen geht (ein Hafen in Cornwall, fing mit „C“ an – natürlich: „Charlestown“!), der die Strategie des langsamen Einkreisens schätzt (wie heißt dieses Lokal da, in Handschuhsheim, mit dem Tier über dem Eingang – da, wo sich Habermas und seine Freunde ab und zu einen hinter die Binde kippten, gegenüber wohnt Marie Marcks, das Tier ist glaub‘ ich eine Ente, die im Dunklen gelblich leuchtet – ach natürlich: Gilberts „Goldener Adler“!) und der manchmal Unerwartetes hervorbringt, das man schon längst versunken glaubte. Mein Gedächtnis ist ein Universalgenie: es ist mein Dolmetscher (ick verstäh doitsch, selbst wenn es mit bayrischem Akzent gesprochen oder valsch geschriben wird) und mein Tagebuch (Mallorca, März 2005: wie schön war es, als wir auf dem Höhenweg des Erzherzogs Ludwig Salvator zwischen Valldemossa und Deia im Sonnenschein wanderten und auf dem Puig des Teix mit herrlicher Aussicht Rast machten), mein Navigationsgerät (wie komme ich vom Bismarckplatz zum Bahnhof?) und meine Planungshilfe (für das Abendessen muss ich noch Brötchen besorgen).

Ab und zu mache ich meinem Gedächtnis eine kleine Freude und blättere in Notizen, die ich angefertigt habe, oder sehe alte Fotoalben durch – dann freut es sich und gibt seinerseits aus dem großen Korb der Erinnerungen ein paar Details bekannt, an die ich schon länger nicht mehr gedacht hatte und die mein Gedächtnis zu einer lebendigen Aufführung bringt – selbst die Wiederholungen sind spannend, weil sie jedes Mal ein klein wenig anders gespielt werden.

Es gibt aber auch etwas Trauriges zu berichten: Verlässt mich mein Gedächtnis, geht mein Ich leider mit. Das steht von vornherein fest, das war Geschäftsgrundlage dieser Dreiecksbeziehung, mit der ich mich bislang gut arrangieren konnte. Mein Bewusstsein, mein Gedächtnis und mein Ich: Diese Dreiecksbeziehung hat sich in meinen bisher knapp 60 Jahren bestens bewährt. Natürlich ist mir klar, dass auch die beste Dreiecksbeziehung eines Tages zu Ende geht. Aber noch ist es nicht soweit – wir drei pflegen eine innige Gemeinschaft und erinnern uns bei einem Gläschen Spätburgunder gerne an schöne Zeiten! Ach wie schön, dass wir so gute Freunde sind: Manches, was mein Gedächtnis weiß, steht auch in anderen Gedächtnissen, ist vielleicht kulturelles Gedächtnis; aber es gibt auch sehr viel Privates, das nur mein Gedächtnis und ich wissen, und schließlich gibt es wohl manches, das meinem Gedächtnis allein gehört, wo ich selbst gar nichts von weiß – so scheint es mir zumindest.

Merkwürdig ist: Wie die ganze Sache anfing – die Beziehung zu meinem Gedächtnis ist nämlich steinalt –, weiß ich gar nicht mehr ganz genau. Es ist so, als wäre das Gedächtnis von Anfang an mein bester Freund gewesen. Aber es gibt eine Zeit davor, an die ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnere. Die ersten zwei Jahre meines Lebens sind wohl verloren gegangen.

Mein Gedächtnis: ist mir fast die liebste unter allen meinen psychischen Funktionen – neben dem Denken und dem Fühlen, die ich beide auch sehr gerne mag. Dass ich es manchmal hasse, passt durchaus dazu. Das bringt die große Liebe manchmal mit sich und geht nicht wirklich tief. Das schöne (und zugleich traurige) an dieser Liebesgeschichte: Wenn mich mein Gedächtnis eines Tages verlässt (bitte, tue es nicht!), wird der Schmerz darüber von kurzer Dauer sein – vergessen ist vergessen.

[Anmerkung: Diesen Text habe ich im Herbst 2008 für die damals neue Zeitschrift „KontroVers“ (hrsg. von unseren damaligen Studierenden Marina Bartolovic & Diana Armbruster) geschrieben – und vergessen… Jetzt ist er mir wieder in die Hände gefallen, als ich eine neue Liebeserklärung („Carola und ich“ – kommt demnächst…) geschrieben habe.]

siehe auch meinen damaligen Blog-Eintrag https://joachimfunke.de/2008/04/30/kreative-studierende-literaturzeitschrift-kontro-vers/

wofür sind Erinnerungen da? Rosel Zech erklärt es anschaulich in Fassbinders (1982) Film „Die Sehnsucht der Veronika Voss“: http://www.youtube.com/watch?v=7noUTwBhlyY

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