„Theory of Mind“ im Kulturvergleich

Seit 1998 habe ich alle 1-2 Jahre ein interdisziplinäres Seminar „Kognitive Ethnologie“ zusammen mit meinem Kollegen Jürg Wassmann von der Ethnologie abgehalten. Neben all dem Spass, den die gemeinsame Veranstaltung macht (der „Streit“ zwischen uns beiden, den wir ab und zu inszenieren, hat vielen Studierenden zu hoffentlich tieferen Einsichten verholfen, zumindest aber zu einer Standpunktklärung beigetragen), gibt es erfreulicherweise auch wissenschaftlichen Erkenntniszuwachs. Fünf Diplomandinnen und Diplomanden unseres PI haben sich, unterstützt durch Dr. Birgit Träuble aus der Entwicklungspsychologie, den Herausforderungen der Feldforschung gestellt und die „Theory of Mind“ (ToM) einem Kulturvergleich unterzogen.

„Theory of Mind“ heißt der Forschungszweig, der sich damit beschäftigt, wann und wie Kinder damit beginnen, das Verhalten anderer Menschen auf mentale Zustände zurückzuführen. Die Wissenschaftler sind sich weitgehend einig, dass Kinder diesen wichtigen Entwicklungsschritt zwischen 3 und 5 Jahren vollziehen. Dann versteht Klein Erna auf einmal, warum ihr Bruder Paul nach der Schokolade im Küchenschrank sucht: er hat sie selbst dort versteckt, aber nicht gesehen, dass Erna sie zwischenzeitlich in den Kühlschrank getan hat. Erna folgert, dass Pauls „falsche Überzeugung“ sein Handeln lenkt. Kindern ohne ausgeprägte „Theory of Mind“ ist dieser Zusammenhang nicht klar. Doch gilt was im Westen erforscht wurde auch auf der anderen Seite der Welt? Taugen die Aufgaben und Tests, die in Amerika und Europa entwickelt wurden, auch unter Palmen? [Ausschnitt aus dem Bericht von Andreas Mayer für ZEIT Online, s.u.]

Die fünf mutigen Diplomandinnen und Diplomanden haben Daten an den abgelegensten Orten dieser Erde gesammelt. Sie wurden mit einem Stipendium im Rahmen des von der Volkswagenstiftung finanzierten interdisziplinären Projekts „Person, Space and Memory in the Contemporary Pacific“ unterstützt, das Jürg Wassmann eingeworben hat und das diese Forschungsreisen möglich gemacht hat.

  • Eva Oberle war zur Erhebung auf der kleinen Insel Fais, die ja – wie vielleicht nicht alle wissen – zu Yap gehört (Mikronesien),
  • Betty Ubl war bei den betelkauenden Bosmun am Ramu-Fluss im Nordosten von Papua-Neuguinea und hat dort ihre Messungen vorgenommen,
  • Miriam Hölzl hat den Stamm der Yupno, den Jürg Wassmann schon vorher gründlich beschrieben hatte, auf 2000 Meter Höhe im Gebirge von Papua-Neuguinea untersucht,
  • Alexandra Tietz war zur Datenerhebung auf der Insel Tonga im südpazifischen Ozean,
  • Andreas Mayer hat bei einer Großfamilie auf Westsamoa gelebt und Daten erhoben.

Was wie Urlaub klingt und idyllische Südsee-Assoziationen weckt, war in Wirklichkeit harte Arbeit unter schwierigsten Bedingungen. Keine üblichen Kommunikationsmittel, ungewohnte Ess- und Hygienestandards, teilweise völlige Abgeschiedenheit, Sprachprobleme und vor allem fundamental andere kulturelle Standards! Kein Wunder, dass nach vorläufigen Auswertungen die Annahme, wonach sich die ToM im Alter zwischen 3 und 5 Jahren entwickelt, relativiert werden muss. Was für westliche Kulturen wiederholt gefunden wurde, bestätigt sich so nicht in den Stichproben aus den pazifischen Regionen. Die detaillierten Befunde werden gerade zu Papier gebracht und können demnächst nachgelesen werden – schon jetzt zeigen sich aber Einschränkungen hinsichtlich des angenommenen Universalismus im Entwicklungsverlauf.

Einen Bericht in „ZEIT Online“ über das Projekt findet man hier: http://www.zeit.de/campus/online/2008/24/psychologie-ozeanien

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