Am 10.1.2021 fand der traditionelle Neujahrsempfang der Grünen in der Halle 02 statt – natürlich online (das Gespräch wurde aufgezeichnet und steht zum Nachhören auf Youtube zur Verfügung)! Unter der Moderation von Dipl.-Psych. Arnd Küppers, einem Alumnus unseres Instituts und früheren Institutsmitarbeiter, fand ein Gespräch zwischen unserer (grünen) Wissenschaftsministerin Theresia Bauer, der (grünen) Bundestagsabgeordneten Franziska Brantner und – als Ehrengast – dem (grünen) Wuppertaler Oberbürgermeister Uwe Schneidewind statt.
Mich hat vor allem die Person Uwe Schneidewind gelockt, ist er doch über viele Jahre Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie gewesen und hat dieses Amt aufgegeben, um seit dem 1. November 2020 als Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal zu amtieren – und zwar als „Grüner“ mit Unterstützung der CDU, obwohl sein Buch „Die große Transformation“ (Fischer, 2018) viele Sätze enthält, die Außenstehende wohl eher dem Wuppertaler Philosophen und Unterstützer von Karl Marx, Friedrich Engels, zuschreiben würden.
Die große Transformation: Schneidewind bezeichnet den gesellschaftlichen Wandel als „Kunst“ – er spricht von einer „Zukunftskunst, auf der Grundlage einer transformatinen Literacy (d.h. dem Wissen um das Zusammenspiel von technologischen, ökonomischen, institutionellen und kulturellen Dynamiken) aktive Beiträge zur Gestaltung einer am Leitbild der Nachhaltigkeit orientierten Zivilisation zu leisten“ (S.41, kursiv). Transformative Literacy: Das bedeutet wohl eine Kompetenz zur Revolution! Er nimmt dabei explizit Bezug auf die „vier Engel“ des moralisch-zivilisatorischen Fortschritts, die Steven Pinker in Kapitel 9 seines 2011 erschienenen Buches „The Better Angels of Our Nature“ beschreibt: Empathie, Selbstkontrolle, Moralität, Vernunft (übrigens allesamt große Themen der Psychologie!).
Wissenschaft wird als Akteur gesehen, der Möglichkeitsräume aufzeigen soll und Wertpositionen vertritt (häufig verborgen und implizit, etwa in der Unterrichtung der Ökonomie – in der Psychologie z.B. im Rahmen eines verborgenen Menschenbilds, das den Menschen als Maschine begreift). Theresia Bauer hat ihr Konzept der Real-Labore eng an Uwe Schneidewinds Überlegungen angelehnt und fördert seit 2015 in Baden-Württemberg eine Reihe derartiger Projekte.
Schneidewinds „Zukunftskunst“. Damit ist die Fähigkeit gemeint, kulturellen Wandel, kluge Politik, neues Wirtschaften und innovative Technologien miteinander zu verbinden. So werden Energie- und Mobilitätswende, die Ernährungswende oder der nachhaltige Wandel in unseren Städten möglich. Sein Buch ermuntert Politik, Zivilgesellschaft, Unternehmen und jeden einzelnen von uns zu Zukunftskünstlern zu werden. Übrigens hat der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) bereits im Jahr 2011 in einem Gutachten mit dem Titel „Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ das Konzept der Großen Transformation stark gemacht, als Antwort auf Große gesellschaftliche Herausforderungen. Das Konzept der Großen Transformation geht auf Karl Polanyi (1944) zurück, der damit die Umwandlungen des Gesellschaftssystems vom 19. in das 20. Jahrhundert (vor allem in England) beschrieben hat. – Den Begriff der „environmental literacy“ hat wohl zunächst Roland Scholz (ETH Zürich) verwendet, bevor Lenelis Kruse (Heidelberg) daraus „sustainability literacy“ machte und dann Uwe Schneidewind von „transformative literacy“ sprach.
In Heidelberg hatte Uwe Schneidewind am 11.4.2018 im Rahmen der Auftaktveranstaltung zum Masterplanverfahren Neuenheimer Feld einen Impulsvortrag gehalten, über den ich seinerzeit in meinem Blog-Eintrag schrieb:
Der anregende wie provozierende Impulsvortrag wurde von Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Präsident des “Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie” gehalten. Unter dem Titel “Horizont 2050+: Nachhaltigkeit, Campus, Städtebau, Mobilität” hat er das Fenster in die Zukunft weit geöffnet und der Stadt Heidelberg nicht nur zu diesem sehr besonderen Beteiligungsverfahren gratuliert, sondern auch die einmaligen Chancen betont, am Beispiel des Neuenheimer Feldes zukunftsweisende Modelle des Zusammenlebens von Stadt und Universität vorzuführen und zu erproben. Eines seiner Kriterien war die “Enkeltauglichkeit”: Was werden unsere Enkelkinder wohl dazu sagen, dass wir momentan alles auf motorisierten Individualverkehr ausrichten (um die 1.5 Tonnen schwere Kisten, die meist 1 Stunde am Tag meist 1 Person von A nach B bewegen und ansonsten auf einem Parkplatz stehen; wieviel Geldvermögen dort auf der Strasse steht, wagt man gar nicht zu berechnen).
Die Angst, am heute Bestehenden etwas aufgeben zu müssen, ohne genau zu wissen, was danach kommt, ist eine Innovationsbremse – unsere Rationalität, so Schneidewind, findet viele gute Argumente für den Status Quo. Das zu durchbrechen wurde in Kleingruppen versucht, die zu klärende Fragen für die ab Sommer startenden Planungsateliers vorbereiten sollten.
Gerade der Materplan-Prozeß in Heidelberg zeigt die berechtigte Sorge, dass es uns Bürgern noch an „transformativer Literacy“ mangeln könnte…. Wir sind anscheinend keine „großen Transformierer“, sondern eher die Apologeten des Status Quo und dessen Fortschreibung in die nächsten Jahrzehnte. Es wird sich bald zeigen, welche Rahmenplanung für die Zukunft des universitären INF-Areals vom (grün dominierten) Gemeinderat beschlossen werden wird.
Der Titel meines Blogbeitrags „Socrates in the town hall?“ lehnt sich übrigens an den Titel eines Buches an, in dem empirische Daten den Leistungsvorsprung derjenigen Universitäten demonstrieren, die von Wissenschaftlern geleitet werden (im Unterschied zu denen, die von Managern verwaltet werden):
- Goodall, Amanda H. (2009). Socrates in the boardroom. Why research universities should be led by top scholars. Princeton: Princeton University Press. [hier eine kurze Beschreibung aus der Hand der Autorin]
Die alte sokratische Vorstellung einer Gelehrtenrepublik, in der ein Philosoph/Wissenschaftler an der Spitze eines Staates steht und öffentliche Ämter nicht von Politikern, sondern von Wissenschaftlern ausgeübt werden (etwas abschätzig „Scientokratie“ genannt): Mit Uwe Schneidewind tritt ein ausgewiesener Wissenschaftler den Versuch an, den politischen Alltag in Wuppertal zu gestalten. Mal sehen, was daraus wird!