Beim nachfolgenden Gastbeitrag handelt es sich um einen Text unseres Ehrendoktors Dietrich Dörner, der seit vielen Jahrzehnten dynamische Prozesse untersucht. In den 1980er Jahren hat er sich intensiv mit der AIDS-Epidemie, insbesondere deren Fallzahlen beschäftigt (nur zwei beispielhafte Quellen: Dörner, D. (1985). Zeitabläufe, Aids und Kognition. Sprache & Kognition, 4, 175–177. – Koch, M., L’Age-Stehr, J., Gonzalez, J. S., & Dörner, D. (1987). Die Epidemiologie von Aids. Spektrum der Wissenschaft, 1(8), 38–51.) und sich immer für Modelle bzw. Simulationen der Wirklichkeit als Erklärungsansätze interessiert. Für meine eigene Forschung im Bereich des Umgangs mit komplexen Systemen war das sehr wichtig (und es hat immerhin 40 Jahre freundlichen Streits bedurft, um einen gemeinsamen Artikel – Dörner & Funke 2017 – zu verfassen, ein Fall von adversarial collaboration).
Im vorliegenden Gastbeitrag zeigt Dietrich Dörner die Nützlichkeit (und geradezu unglaubliche Vorhersagekraft!) einer mathematischen Funktion (der Gompertz-Funktion) zur Modellierung von Corona-Fallzahlen (auch wenn die politischen Implikationen einen erneuten Anlass zum Streit bedeuten könnten). Das neue Feld von „political decision making“ (PDM): Eine Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft und Psychologie, die zunehmend größere Bedeutung erlangt! Lesen Sie selbst!
PS: Am 17.1.21 hat DD seinen ursprünglichen Beitrag (von mir erstmals am 2.1.2021 hier unter dem Titel „Corona und Mathematik“ publiziert; die Links wurden allesamt von mir hinzugefügt) ganz wesentlich aktualisiert und ergänzt (von mir am 18.1.2021 unter dem ergänzten Titel „Corona, Mathematik und Psychologie“ ins Netz gestellt). Am 30.1., 5.2., 16.2. und am 22.2.2021 hat es noch weitere Aktualisierungen gegeben (am Ende angefügt). – Ich betone bei dieser Gelegenheit nochmals, dass die politischen Bewertungen des Gastbloggers DD nicht meine persönlichen Bewertungen widerspiegeln. Dass sich politisches Handeln rechtfertigen muss (gerade angesichts von Grundrechtseinschränkungen), halte ich allerdings wie DD für notwendig.
Gastbeitrag „Corona, Mathematik und Psychologie“. Von Prof. Dr. Dietrich Dörner, Universität Bamberg
Wenn etwas Neues geschieht, und besonders, wenn dieses Neue bedrohlich erscheint, möchte man gerne wissen, warum es geschieht und warum es so geschieht wie das der Fall ist. Denn wenn man etwas von etwas anderem ableiten kann, es berechnen kann, dann heißt das, dass es bestimmten Gesetzen gehorcht. Und dann ist es schon viel weniger bedrohlich; denn man weiß dann, wovon das Geschehen abhängt und das kann bedeuten, dass man eine Abhilfe finden kann.
Warum geschieht „Corona“ und wie geschieht es? Auf die Frage „wie?“ kann man oberflächlich leicht antworten; auf der Abbildung 1 sieht man den Zuwachs der Neuinfizierten Tag für Tag vom 1. September 2020 bis zum Weihnachtsfest. Auf die Frage „wie?“ kann man also antworten „so!“. Und auf Abbildung 1 zeigen. Hier sieht man (hellblau) die Zuwachszahlen, so wie sie vom Robert-Koch-Institut von Tag zu Tag berichtet werden. Dann sieht man eine Kurve aus blauen Quadraten; diese zeigt den Zuwachs von Tag zu Tag als gleitenden Mittelwert, als 7-Tage-Mittel; die Werte werden also berechnet, indem zum Wert eines Tages die sechs vorausgehenden Werte hinzuaddiert werden und die Summe durch 7 geteilt wird. (Das kann man auch anders machen, zum Beispiel so, dass die jeweils aktuelle Zahl in der Mitte steht und man die Summe bildet, indem man die drei vorlaufenden und die drei nachlaufenden Werte zum mittleren Wert addiert und das ganze durch 7 teilt. Dann hat man ein zentriertes 7-Tage-Mittel. Dieser Unterschied ist schon wichtig, da man sonst leicht verwirrende Ergebnisse erhält; wenn man die sechs vorlaufenden Wert zum siebten addiert, bekommt das 7-Tage-Mittel einen „Rechtsdrall“; die aktuellen Werte sind „vergangenheitslastig“. Das sieht man auf Abbildung 1 deutlich! Besonders im „Oktober“! Aber mit einem solchen Rechtsdrall kann man leben. Wenn man ihn kennt! Denn er lässt ja keine Daten aus!).
Abbildung 1: Die Entwicklung der Anzahl der Neuinfizierten vom 1. September bis zum 24. Dezember 2020. Hellblau: Anzahl der Neuinfektionen pro Tag nach dem RKI. Blaue Quadrate: 7-Tage-Mittel der Anzahl der Neuinfektionen pro Tag.
Was geschieht in dem Prozess, der auf Abbildung 1 dargestellt wird? Und warum läuft der Prozess gerade so ab? Das sieht – auf den ersten Blick – zumindest im hinteren Teil ziemlich „unordentlich“ aus! Zuerst geht es langsam los; dann aber wird der Anstieg steiler. Dann wieder schwächer und es folgt eine Art Plateau, das langsam absinkt. Soweit noch ganz gut; das ist ein Sigmoid! – Aber dann sieht man gar nicht mehr so genau, was los ist; es wird einfach „unordentlich“; man erkennt keine Regel! Es gibt wieder einen Aufstieg, dem ein weiteres Plateau vom 11. bis zum 16. Dezember folgt. Dann gibt es wieder einen Anstieg und wieder ein Plateau, aber ein kleineres. – Was geht hier vor?
Eine Infektion ist ein biologisches Geschehen. Das Virus vermehrt sich, so gut es kann und das tut es, in dem es immer mehr Personen infiziert. Das hat aber eine natürliche Grenze, nämlich in der Anzahl der infizierbaren Personen. Biologische Wachstumsprozesse lassen sich gewöhnlich als Sigmoide (Sigma = griechisch S) beschreiben, als eine Struktur also, die einem S, welches man an der oberen Hälfte nach rechts zieht, ähnlich ist. Ein solcher sigmoidaler Verlauf ist in der Abbildung 1 beobachtbar, nämlich vom 1. September bis etwa zum 15. November. – Warum aber bildet sich ein Sigmoid und nicht zum Beispiel eine exponentiell verlaufende Kurve? Das ist einfach zu beantworten; das Wachstum „frisst“ gewissermaßen seine eigenen „Ressourcen“. Je mehr die Anzahl der Infizierten anwächst, desto weniger können neu infiziert werden und dadurch nimmt die Wachstumsrate immer mehr ab, um schließlich gegen Null zu gehen.
Eine sehr allgemeine Wachstumsfunktion ist die Gompertz-Funktion. Benjamin Gompertz (1779 – 1865) war ein britischer Jude, der, weil er Jude war, nicht studieren durfte. Dennoch wurde er im Jahre 1819 in die Royal Society aufgenommen. (So ganz stringent war also der britische Rassismus nicht.) – Gompertz befasste sich unter anderem mit „Sterbetabellen“ also mit der Frage, wie die Entwicklung der Häufigkeit von Todesfällen mit steigendem Alter zu- und schließlich natürlich wieder abnimmt (weil einfach immer weniger Leute da sind, die sterben können). Solche Zahlen benötigen die Versicherungsanstalten, um die Versicherungsgebühren so zu berechnen, dass eben ein erfreulicher Betrag für den Versicherungsnehmer im Erlebensfall abfällt, auf der anderen Seite aber auch für die Versicherungsgesellschaft ein befriedigender Profit gesichert ist. (Die Gompertz-Funktion ist mithin ein echtes Produkt einer „kapitalistischen“ Kalkulation; damit sie Gewinn abwirft, muss sie stimmen!) Gompertz entwickelte (oder entdeckte) im Jahre 1825 die Gompertz-Funktion als eine allgemeine Funktion, die viele verschiedene Wachstumsverläufe (genauer: unendlich viele!) zu berechnen gestattet. Die Formel lautet:
y = A × e^(-e^(B – C × x))
(Das Zeichen ‚^‘ sollte man hier ‚hoch‘ lesen und ‚e‘ ist die Eulersche Zahl, nämlich 2.71828 … .) – Für den konkreten Fall muss man die Parameter A, B, und C schätzen. Erfreulicherweise reicht als Grundlage für die Schätzung im Extremfall neben dem Beginn der Entwicklung ein einziges Datum! Bei stark zufallsbehafteten Daten sollte man aber vielleicht doch lieber auf drei oder vier Datenpunkte oder eine kurze Serie zurückgreifen. Man wird dann, wenn man das ganze am Rechner macht, erstaunt beobachten können, wie „Gompertz“ – wie von Zauberhand – aus einer kurzen Serie, die fast wie eine Gerade aussieht, einen ziemlich komplizierten Kurvenverlauf macht.
(Mit den Parametern A = 1026000, B = 3.46, C = 0.046 und x = 1 .… 75 können Sie die 7-Tage-Mittelwerte der Abbildung 1 ganz gut errechnen. Nehmen Sie zum Beispiel x = 65. Das ist also auf der Abbildung 1 der 4. November. Und dann rechnen Sie bitte
y = 1026000 × 2.71828^(-2.71828^(3.46 – 0.046 × 65))
Wenn Sie nun für y irgendetwas errechnet haben, was ungefähr so aussieht wie „207147“, dann haben Sie richtig gerechnet! Das ist nun die Gesamtzahl der Infizierten nach 65 Tagen. Diese Zahl wollen Sie aber gar nicht; sie wollen das Wachstum zu diesem Zeitpunkt. Das bekommen Sie ganz einfach, indem Sie von der obenstehenden Zahl die Gesamtzahl der Infizierten nach 64 Tagen abziehen. Damit Sie nicht zu rechnen brauchen: das ist 192118! Das Wachstum am Tag 65 beträgt mithin 15028. Zu dieser Zahl sollten Sie noch 1288 addieren, das ist eine Wachstumskonstante, die so etwas wie eine Basis darstellt, ein Grundwachstum, auf dem die Entwicklung aufsetzt. (Das ist so ungefähr das tägliche Wachstum von Neuinfizierten, das zwischen dem 1. Mai und dem 31. August 2020 durchschnittlich der Fall war. Die sogenannte „zweite Welle“ setzt auf diesem Grundwachstum auf. – Diese additive Konstante bezeichnen wir in Abbildung 2 als „Ae0“. Ae0 kann aber auch eine Funktion sein, zum Beispiel ein Gompertz-Wachstum, das die Basis ist, auf der ein anderes Wachstum, welches natürlich auch ein Gompertz-Wachstum sein kann, aufsetzt. – Dafür wird uns ein Beispiel noch begegnen!
Sie bekommen also nun für den 4. November das von Benjamin Gompertz vorausgesagte Wachstum von 16317. Das Wachstum, welches das RKI berichtet, ist – bei einer 7-Tage-Mittelung – = 16192. – Also ich finde, wenn man bedenkt, dass Benjamin Gompertz keine Ahnung hatte von Corona und auch nicht von der bisherigen Entwicklung, wenn man ihm nur gesagt hätte: „es gibt hier eine Entwicklung, die am 1. September 2020 beginnt und die durch folgende drei Punkte (1. …, 2. …, 3. …) geht. Nun sagen Sie uns doch bitte einmal welchen Wert diese Entwicklung am 4. November 2020 haben wird?“ – Und wenn er nun antworten würde: „16317!“, dann würde man ja wohl doch sagen: „Benjamin Gompertz kann hellsehen!“ Und zwar über eine Distanz von 195 Jahren hinweg. (Benjamin Gompertz kann uns auch verraten, wann die Entwicklung zu einem Plateau einschwenkt und was dann weiterhin geschieht in den nächsten 200 Tagen. Oder auch 2000 Tagen.)
Die Gompertz-Funktion ist eine Funktion von großer Eleganz, großer Intelligenz und erstaunlich einfach, für das, was sie leistet! (Und bitte glauben Sie nicht, dass man mit einer Gompertz-Funktion eigentlich fast alles machen kann durch die geeignete Wahl der Parameter A, B, C und Ae0. Sie könne keineswegs die Gompertz-Kurve auch nur an beliebige sigmoidale Entwicklungen anpassen. Denn der Wendepunkt (also der Punkt von dem an die Wachstumsraten nicht mehr steigen, sondern sinken) muss bei einer Gompertz-Kurve bei 1/e liegen; der Wendepunkt ist also erreicht, wenn 36.78% der entsprechenden Bevölkerung infiziert ist. Und das kann man nicht einfach „setzen“, sondern es muss bei den empirischen Daten der Fall sein!).
Die Parameter A, B, C bedeuten folgendes: A ist der Grenzwert, dem die Funktionswerte zustreben, also in unserem Fall zum Beispiel die Gesamtanzahl der schließlich Infizierten. B ist die Entfernung des Wendepunktes der Kurve (der Wendepunkt ist der Zeitpunkt, von dem an die Wachstumsraten nicht mehr zu-, sondern abnehmen.) Wenn B klein ist, so wird der Anstieg der Wachstumsraten schnell sehr steil; die Anzahl der Neuinfizierten pro Zeiteinheit wird also schnell recht groß. Das ist zum Beispiel auf hoch vernetzte Gruppen, in denen häufig die Kontakte wechseln, zurückzuführen. In einer solchen Gruppe breitet sich die Infektion, wenn erst einmal eine Person infiziert worden ist, explosionsartig aus. (Nein! Selbst dann nicht exponentiell! Sondern auch dann mit fallenden Wachstumsraten!) – C ist die „Schlankheit“ der Funktionsentwicklung; mit großen Werten von C bilden sich relativ große „Bäuche“ nach unten rechts bzw. nach oben links in der zweiten Hälfte. Das bedeutet zum Beispiel, dass eine Wachstumskurve einen schnellen Start, aber ein sehr langen „Schwanz“ haben kann. Das ist zu erwarten, wenn eine Population gewissermaßen inhomogen vernetzt ist, also zum einen hoch vernetzte Mitglieder enthält, die einander leicht infizieren können, aber auch relativ schwer erreichbare Personen, die allein oder in abgeschotteten Gruppen leben und deren Infektion größere „Schwierigkeiten“ macht. Mit der Schätzung der Parameter A, B und C erprobt man also in unserem Fall gewissermaßen sozialpsychologische Hypothesen. Man sagt etwas aus über die Merkmale der Beziehungsstrukturen der Population, in der sich Corona ausbreitet.
In Abbildung 1 sinkt das Wachstum nach dem 14. November aber nicht stark ab, wie es eigentlich zu erwarten wäre. Vielmehr sinkt es erst noch ein wenig, nimmt dann erst langsam, schließlich aber schneller bis zum 11. Dezember wieder zu, dann flacht es ab, um aber etwa am 18. Dezember einen erneuten „Sprint“ zu beginnen, der am 20. Dezember aber wieder abflacht. Merkwürdig und gefährlich; irgendwie scheint die ganze Angelegenheit keiner Regel mehr zu gehorchen. In der Presse hieß es: „das Wachstum ist außer Kontrolle“! Das stimmt aber nicht. Betrachten wir nun die Abbildung 2!
Abbildung 2: Die Entwicklung der Anzahl der Neuinfizierten und die Berechnung der entsprechenden Zahlen mithilfe der Gompertz-Funktion: Rote Quadrate: Gompertz-Werte (theoretische Werte). Blaue Quadrate: 7-Tage-Mittel der Anzahl der Neuinfektionen pro Tag. Rote Rauten: Fortentwicklung der „zweiten Welle“ nach der dem Einsetzen der „dritten Welle“. Gelbe Rauten: die dritte Welle nach Gompertz, isoliert dargestellt. Grüne Dreiecke: Summe der Zuwächse der „zweiten Welle“, eigentliches Gompertz-Wachstum (Achtung! Anderer Maßstab: 1:2500; Standard-Maßstab: 1:100).
Hier gibt es mehr Kurven zu sehen, aber alles erscheint „ordentlicher“. Gompertz überall. Hier sieht man die „zweite Welle“, deren Zuwachs nach dem Höhepunkt etwa am 14. November zunehmend abflacht, abzusinken beginnt, aber noch Anfang Februar 2021 etwa 2000 Neuinfizierte pro Tag beträgt. (Die Kurve mit den roten Rauten ist die Fortsetzung der „zweiten Welle“. Die sollte auch man nämlich nicht vergessen! Es gibt sie nämlich immer noch!) – Etwa ab dem 19. November setzt sich auf diese Kurve eine andere auf, die aber auch wieder gut durch eine Gompertz-Funktion beschrieben werden kann, deren Parameter man (blaue Schrift!) oben links auf Abb. 2 sieht. Man sieht diese Gompertz-Funktion als gelben Kurvenverlauf rechts unten, der etwa am 19. November beginnt. Wenn man diese auf die „zweite Welle“ aufsetzt, bekommt man die Fortsetzung der Kurve der Neuinfizierten als Summe aus „zweiter“ und „dritter Welle“, als Gompertz-Verläufe. Wir haben hier also einfach zwei Gompertz-Funktionen „huckepack“!
Aber diese Entdeckung muss man erst einmal machen; denn der erste Eindruck, den man von dem Verlauf der Entwicklung der Anzahl der Neuinfizierten vom 19. November an hat (siehe Abbildung 1), ist keineswegs „gompertzsch“. Man sieht „Gompertz“ erst dann, wenn man den weiteren Verlauf des Wachstums der „zweiten Welle“ nach dem 19. November betrachtet. Man kann dann sehen, dass die „dritte Welle“ gewissermaßen dadurch verzerrt wird, dass das jeweilige Wachstum auf der abflauenden „zweiten Welle“ aufsitzt. Wenn man die lichtgrauen Senkrechten von „Welle 2“ zu den 7-Tage-Mittelwerten (blaue Quadrate) auf eine waagerechte Unterlage stellt, und nicht auf die abflauende „zweite Welle“, wird das ganz deutlich. Und dann kann man die Parameter A, B, C für die Gompertz-Funktion schätzen. Und bekommt – bis auf zwei „Ausreißer“ – um den 12. und den 17. Dezember herum – gute Übereinstimmungen mit der Realität. (Auf die beiden „Ausreißer“ gehen wir noch ein!).
Quintessenz also: alles Gompertz! – Wir können aber nicht nur die Vergangenheit beschreiben, sondern auch die Zukunft voraussagen. Die Kurve der Anzahl der Neuinfizierten sollte etwa am 10. Januar 2021 die 20,000-Linie schneiden, um dann weiter abzusinken; am 7. Februar gibt es dann „nur noch“ etwa 7500 Neuinfizierte. – Nebenbei: wenn Sie so halbwegs mit Excel umgehen können, können Sie das alles selbst ziemlich leicht berechnen und ausrechnen, mit wieviel Neuinfizierten wir am Ostersonntag 2021 rechnen müssen.
Und schon mit dem ersten Parametersatz konnte man die „zweite Welle“ ganz gut voraussagen. Wir verblüfften im Oktober Kollegen mit der Voraussage, dass zu Weihnachten etwa mit 7-8000 Neuinfizierten zu rechnen sei, sehr. (Die Bundeskanzlerin hatte für die zweite Welle eine bei weitem größere Anzahl von Neuinfizierten „exponentiell“ ermittelt!) Wenn man nur die „zweite Welle“ betrachtet, so erwies sich unsere Schätzung als richtig.
Die gesamte Infektionsentwicklung in der Bundesrepublik lässt sich also, obwohl auf den ersten Blick sehr „unordentlich“, sehr einfach, nämlich mit einer einzigen Funktion, beschreiben. Sie lautet:
y = 1288 + 1026000 × e^(- e^(3.46 – 0.046 × x)) + 975000 × e^ (-e^ (4.05-0.045 × (x-45)))
ist also die Summe zweier Gompertz-Funktionen mit verschiedenen Parametern. – Die Passung der Gompertz-Funktion zur Realität ist recht gut; man könnte auch sagen: sehr gut! Und dass das Ganze Zufall ist, ist sehr unwahrscheinlich. Wirklich sehr unwahrscheinlich; die Wahrscheinlichkeit liegt unter 1/1.000.000.
Es stellen sich aber einige Fragen:
1. Auf der Abbildung 2 sieht man zwei sehr große Abweichungen der empirischen von der theoretischen Kurve, also der 7-Tage-Mittelwerte (blaue Quadrate) von der Gompertz-Kurve (rote Quadrate). Und zwar geht diese Abweichung (am 12. Dezember) zunächst nach oben; es findet sprunghaft eine große Vermehrung der Neuinfektionen statt. Und wenige Tage später (am 17. Dezember) kommt es dann zu einer gegenläufigen Entwicklung etwa gleicher Größe, die Neuinfektionen nehmen sehr stark ab. Hier sieht es so aus, als wären versehentlich oder absichtlich die Neuinfektionszahlen zunächst nach oben, dann aber – korrigierend? – nach unten verschoben worden. Dass diese beiden Veränderungen, die sich also wechselseitig aufheben, durch Zufall aufgetreten sind, ist sehr unwahrscheinlich.
2. Man intendierte ja, durch Lockdowns, Reisebeschränkungen, Quarantäne, Maskenzwang, Ausgangsverbote, Geschäftsschließungen usw. usw. den Gang der Infektionen zu verändern, zu verlangsamen oder ganz zum Stillstand zu bringen. Alle diese Maßnahmen, die ja eigentlich zu einer Veränderung der Parameter der Neuinfektionen hätten führen müssen, also dazu, dass die Gompertz-Funktion nicht mehr zu den blauen Quadraten passt, sind in der Abbildung 2 gänzlich unsichtbar. Es ist so, als hätte es diese Maßnahmen nicht gegeben! Wo sind die Effekte? („Die Maßnahmen waren einfach zu schwach!“ meint die Bundesregierung. Ein wenig ähnelt dieses Verhalten dem Tun des Autofahrers, der immer wieder vergeblich versucht, sein Auto anzulassen, ohne zu merken, dass kein Sprit im Tank ist.)
Abbildung 3: Verlauf der Anzahl der Neuinfizierten im März und April 2020 und die zugehörige Gompertz-Funktion. Etwa ab dem 1. Mai liegt das 7-Tage-Mittel deutlich über der Gompertz-Funktion. Warum?
Das Vertrauen in Lockdowns usw. hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass man glaubt, man hätte im März und April mit diesen Maßnahmen ja doch einen sehr guten Erfolg erzielt. Das aber könnte ein Irrtum sein. Auf Abbildung 3 sieht man, dass das Geschehen im März und April keineswegs auf den Lockdown usw. zurück zu führen zu sein braucht. Man sieht in Abbildung 3, dass sich das Geschehen im März und April 2020 auch allein durch den natürlichen Wachstumsprozess erklären ließe. Der Lockdown könnte also ganz unnötig gewesen sein! (Es könnte sogar sein, dass „die Maßnahmen“ nicht nur nichts genutzt, sondern geschadet haben; auf Abbildung 3 kann man deutlich sehen, dass sich nach der akuten Phase das Verhalten verschoben hat und nun deutlich riskanter wurde. Die Infektionszahlen liegen sehr deutlich über den Gompertz-Erwartungen. Und das könnte darauf zurückzuführen sein, dass man durch den relativ glimpflichen Verlauf der „ersten Welle“ und durch die Zurückführung dieses Ausgangs auf die staatlichen Maßnahmen das Gefühl bekommen hat, nunmehr „Corona“ im Griff zu haben. Hier fehlte die Kausalanalyse! Die Bundesregierung hat es unterlassen, sich durch Experten darüber beraten zu lassen, worauf der Verlauf eines Wachstums zurückzuführen sein kann.
Und weil man glaubte, dass „Corona“ durch einen undifferenzierten, globalen Lockdown besiegbar sei, wurden die Leute leichtsinnig. Und das könnte immerhin in nicht unbeträchtlichen Weise zu den mehr als 2000 Todesfällen von Mai bis Mitte Juli beigetragen haben!) – In ihrer Regierungserklärung am 29. Oktober 2020 meinte die Bundeskanzlerin, dass die geplanten Maßnahmen „geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“ seien. Es erwies sich bislang, dass sie weder geeignet, also auch nicht erforderlich und deshalb schon gar nicht verhältnismäßig waren. – Die EU-Einschätzung der Bundeskanzlerin ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass sie die Maßnahmen im März und April als Erfolge ihrer Politik verbucht hat. Benjamin Gompertz meint, dass die Infektionszahlen etwa ab Weihnachten zurückgehen werden. Mal sehen, auf welchem Konto dieser Rückgang Ende Januar verbucht werden wird!
3. So, das ist nun zweifellos die Stimme der Wissenschaft, die soeben gesprochen hat. Die Stimme der Wissenschaft? Oder eine Stimme der Wissenschaft? Die „Stimme der Wissenschaft“, wie sie die Leopoldina verbreitete und der unsere Bundeskanzlerin eilig folgte, lautete aber ganz anders! Sie empfahl einen harten Lockdown! Unsere „Stimme“ aber meint, dass eine Reduzierung des Wachstums von allein auftreten wird. Nun kann man nun natürlich dennoch versuchen, die Reduzierung des Wachstums zu beschleunigen! Und das ist sinnvoll und geboten! Aber die richtigen Methoden hat man dafür anscheinend noch nicht gefunden! Noch schlimmer: man sucht doch gar nicht danach! Man wiederholt einfach die gleichen Maßnahmen in verstärkter Weise! Ob das so klug ist? – Welcher Stimme sollte man nun vertrauen? Kann man der Wissenschaft überhaupt glauben? Doch, sicherlich kann es so geschehen wie Benjamin Gompertz das voraussagt. Nach Weihnachten geht es abwärts mit Corona! Und am 7. Februar 2021 haben wir nur noch 7500 Neuinfizierte am Tag. – Aber die Wissenschaft weiß auch: „Bedenke, dass es immer auch ganz anders sein kann!“ (Georg Christoph Lichtenberg). Wir gehen immer auf schwankendem Boden, auch mit der Wissenschaft. Aber es besteht ja durchaus die Möglichkeit, dass sich aus den vielen Wellenbewegungen, die sich mit „Corona“ in der Bundesrepublik Deutschland abspielen, plötzlich eine Koordination verschiedener Wellen zu einer vierten oder fünften großen Welle ergibt. Dann geht es wieder aufwärts mit „Corona“. – Oder, dass wir vielleicht Fehler gemacht haben bei der Schätzung der Gompertz-Parameter für die „dritte Welle“ (bei der „zweiten Welle“ gibt es viele Indizien dafür, dass die geschätzten Parameter wohl(!) richtig sind). Kleine Ungenauigkeiten bei der Parameterschätzung, die vielleicht in den ersten eineinhalb Monaten der „dritten Welle“ keine Rolle spielten, könnten doch die Voraussage des weiteren Verlaufs ändern? – Hier vielleicht noch einige, meines Erachtens aber der Wissenschaft wegen, notwendige Worte zur öffentlichen Diskussion von „Corona“:
Voltaire meinte, nicht „nur so“ und aus allgemeiner Menschenfreundlichkeit, dass man alles (alles!) sagen dürfe. Denn nur so kann man sicher sein, dass auch die vielleicht für manche Zeitgenossen „inplausiblen“ Auffassungen ausgesprochen werden, also auch das, was heute (da es nicht mit dem allgemein für wahr gehaltenen Theorien übereinstimmt) als „Verschwörungstheorie“ abqualifiziert wird. Viele Behauptungen, die den jeweiligen Zeitgenossen als völlig inplausibel erschienen, erwiesen sich später als Wahrheiten. Vielleicht ist die Abqualifikation von „Verschwörungstheorien“ in 99% der Fälle richtig. Wenn man sie aber alle abqualifiziert, verliert man auch das eine Prozent, das man beachten sollte. Vielleicht verliert man noch mehr! Denn was ist eine „Verschwörungstheorie“? Vielleicht nur eine Theorie, die irgendwem nicht passt, weil seine Theorie eine andere ist. (Gerade „Ideologen “ (gleichgültig ob „rechts“, „links“, „christlich“, „muslimisch“, … ) sind äußerst empfindlich, wenn man ihre „Theorien“ anzweifelt. Denn Zweifel heißt es im Bereich von Ideologien immer Zweifel an der „letzten Wahrheit“!)
Die einfachste Form, eine vielleicht ganz vernünftige Theorie beim Publikum in Misskredit zu bringen, ist, sie zur „Verschwörungstheorie“ zu erklären. Auch darauf sollte man achten! Was will uns jemand eigentlich sagen, wenn er eine Theorie als „Verschwörungstheorie“ bezeichnet?
Geschwindigkeiten sind relativ! Wenn ich mich in einem Vorortzug, der sich mit 50 km/h seinem Ziel nähert, mit 5 km/h in die Gegenrichtung bewege, dann bewege ich mich nur mit 45 km/h in Richtung auf das Ziel! Das ist doch klar! „Nee!“ meinte Einstein, „das ist gar nicht klar; für die Lichtgeschwindigkeit gilt das nicht!!“ – Fast wäre Einstein im Jahre 1905 wegen des Versuchs der Verbreitung dieses Blödsinns aus der wissenschaftlichen Szene entfernt worden! Wenn da nicht Max Planck gewesen wäre, der für Blödsinn einen gewissen Sinn aufbrachte!
„Prüfet alles! Das Gute aber behaltet!“ meinte Rousseau. Rousseau sagte nicht: „Prüfet alles, außer den „Verschwörungstheorien“! – Es empfiehlt sich sehr, sich von der Wissenschaft beraten zu lassen, aber ihren Aussagen bedingungslos zu vertrauen, empfiehlt sich nicht. Es gibt zum Beispiel in der Physik Leute, die meinen, dass sich Einstein „quantenphysikalisch“ sehr geirrt habe und es gibt andere, die meinen, dass die Lichtgeschwindigkeit keine Konstante, sondern eine Variable sei. Ich finde die Idee, dass die Naturgesetze einer Evolution unterworfen sind, sehr interessant!
Und zum Abschluss: das alles sieht ganz hübsch aus! Und ist ein Triumph für Benjamin Gompertz! Aber: es ist in bestimmter Weise nicht verallgemeinerbar! Das sieht man schon daran, dass man, wie in diesem Fall, für die Gompertz-Funktion verschiedene Parametersätze verwenden musste, die also populationsspezifisch sind. Nun haben wir in der Bundesrepublik schätzungsweise 300 vor sich hin schmurgelnde „Infektionswellen“. Und für jede bräuchten wir wahrscheinlich einen jeweils spezifischen Parametersatz, da die sozialen Beziehungsstrukturen ganz verschieden sein dürften. „Gompertz“ ist vermutlich immer noch ein allzu niedriger Auflösungsgrad. Besser wäre eine echte Computersimulation des gesamten Geschehens. Auch das wäre wohl machbar, erfordert aber einen Aufwand, den einer allein nicht erbringen kann!
— ab hier: Ergänzung vom 17.1.2021 —
Tja, so war der Stand am 24. Dezember. Und dann kam eben Weihnachten und jetzt geschah folgendes: Die Empirie machte einen Knick. Nach unten! Die Zuwachsraten der Neuinfizierten sanken und sanken. Wunderbar, ein Weihnachtsgeschenk: irgendwer hat uns von Corona erlöst. Und natürlich: zu der Wachstumsfunktion passt das gar nicht! Denn die hätte ja eigentlich weiter so verlaufen müssen, wie es die roten Quadrate indizieren! So ging es aber nicht! Bis zum heutigen Tage (5.1.2021) nicht. Also: Das war es dann also mit „Corona“, zum zweiten mit der Gompertz-Funktion!?
Abbildung 4: Der Heiligabend-Knick. Siehe Text!
Stimmt das? Nun: Das ist eine neue Lektion, die aber eigentlich selbstverständlich ist. Aber nicht für jeden! – Viele Wissenschaften sagen: „Nur die Empirie!“, „Facts are facts!“. „Nein, du musst immer fragen: was steht hinter der Empirie? Du musst nach den Ursachen fragen?!“ Hört Corona wegen Weihnachten auf? Kaum! Aber die Gesundheitsämter hören auf! Sie testen nicht mehr oder kaum noch und berichten auch nicht mehr notwendigerweise zuverlässig. Und so kommt es zu der „empirischen Veränderung“. Die „facts“ sind ganz andere „facts“ als vorher. Man sieht das und hier ist es sinnfällig! Geben Sie sich nie mit der Empirie zufrieden! Gucken Sie immer auf das, was hinter der Empirie steht. – Was geschehen müsste wäre, dass sich bei der Normalisierung der Tätigkeit der Gesundheitsämter und anderer Institutionen wiederum die Wachstums- bzw. Verfallsraten zeigen würden, die so ungefähr durch die roten Quadrate indiziert werden. Schauen wir mal! – Aber man kann auch schon jetzt sagen, dass die „Empirie“ der Wachstumsgröße nach dem 24. Dezember vermutlich zwar „Empirie“ ist („vermutlich“ deshalb, weil man auch „facts“ angeben kann, die gar keine sind!), aber dass eben andere Einflüsse zu denen hinzukamen, die vorher wirksam waren.
Wie kann man erkennen, ob „facts“ auch „facts“ sind? Nun, man kann sich in unserem Falle zum Beispiel die Intensivbetten-Belegung angucken. Denn die ist natürlich abhängig von der Anzahl der Neuinfizierten. Aber einmal mit einer bestimmten Verzögerung und zum zweiten werden eben nicht alle Neuinfizierten krank. – Und dann sieht man, dass im Hinblick auf die Intensivpflege der Heiligabend-Knick nicht stattfand. Im Wesentlichen folgte die Intensivbettenbelegung ihrem vorherigen Trend. Natürlich gegenüber dem Wachstum der Neuinfizierten verzögert! Also hat sich mit den tatsächlich schwer Erkrankten so gut wie gar nichts getan. Zumindest bis heute (30.12.2020)! Also wird sich auch mit dem Infektionsgeschehen nichts geändert haben. So können wir vermuten; aber das ist eine kleine Lektion im Hinblick auf den Umgang mit der Empirie. Empirie sollte man nicht ohne Nachdenken zu Kenntnis nehmen! – Wie es weitergeht, werden wir ja sehen! Aber: Wenn nun die Infektionszahlen wieder in die Höhe gehen sollten in den kommenden Tagen, dann sollte man keinen Schreck bekommen.
Gut, inzwischen ist wiederum einige Zeit vergangen; wir schreiben den 16.1.2021. Und den Stand der Entwicklung sehen wir in der Abbildung 5! Hier sieht man, dass nach dem 3. Januar die Anzahl der Neuinfizierten wieder ansteigt und – oh Wunder! – die verirrten Schäflein der blauen Quadrate, nähern sich, wie an der Schnur gezogen, der Gompertz-Funktion und beginnen, ihr wieder zu folgen. Kann das zufällig sein? Nun, das kann man ja prüfen. Dass das zufällig ist, ist sehr sehr unwahrscheinlich! Woher wissen die Einwohner der Bundesrepublik, in Nord und Süd und Ost und West, dass sich eine ganz bestimmte Anzahl heute in Arztpraxen oder Testzentren zum Testen melden sollen? Und morgen ist die Zahl eine andere! Und übermorgen wieder anders!
Abbildung 5: Die Rückkehr der verirrten Schäflein. Siehe Text!
So und nun noch etwas zur Psychologie des politischen Denkens. Wir haben ja schon vorherüber die Besonderheiten des politischen Denkens gesprochen, besonders über dessen hohe Anfälligkeit für törichte Entscheidungen und Entschlüsse. Sehen wir nun noch einmal nach, was wir da so im Hinblick auf das „Coronadenken“ in der letzten Zeit finden.
Wir haben behauptet, dass Politiker auf die hohe Unbestimmtheit der politischen Situation und dem Unwissen über die Determinanten der zukünftigen Entwicklung zu Angstreaktionen neigen. Die Versuche, Besorgnis und Angst zu bekämpfen, führen nun dazu, dass sich Politiker oft überschätzen.
Die meisten Fehler der Politik basieren, nach Meinung von Platon (Timaios 69 d) auf der Selbstüberschätzung oder der Selbstunterschätzung. Drei grobe Kategorien von Torheiten führen bei Politikern zur Hybris (oder zur Verzweiflung), und zwar besonders bei solchen, mit einem instabilen Selbstwertgefühl. Diese neigen zum „Narzissmus“, haben also eine große Tendenz, ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Und zwar in folgender Weise:
1. Vereinfachung der Realität. Wenn die Realität einfach ist, dann sind natürlich auch die Probleme einfacher! Wie vereinfacht man die Realität? Eher nicht dadurch, dass man die Realität vereinfacht; das ist ziemlich schwer. Man vereinfacht das Bild, dass man sich von der Realität macht. Das wiederum ist ziemlich leicht. Es geschieht oft dadurch, dass der Blick auf die Realität vergröbert wird und man nur noch diejenigen Dinge wahrnimmt, die einem in den Kram passen. Das ist die „Konfirmationstendenz“, die Tendenz, dass, was man gerade braucht, auch wahrzunehmen, auch wenn es gar nicht vorhanden ist. Beispiele dafür findet beim man beim Coronadenken recht oft. – Die Konfirmationstendenz muss nicht dazu führen, dass man etwas Wünschenswertes wahrnimmt, was gar nicht vorhanden ist. Denn irgendwelche Indizien sollten ja doch wohl da sein, damit doch ein schwacher Grund dafür besteht, daran zu glauben, dass etwas Wünschenswertes vorhanden ist. Wenn nun ein solches hoffnungsbringendes Indiz ganz und gar nicht gefunden werden kann, dann bleibt der Versuch, die Realität den eigenen Wünschen anzugleichen erfolglos. Und es resultiert Verzweiflung, die oftmals damit verbunden ist, dass man die kleinen Chancen, die die Realität vielleicht doch bietet, übersieht, also die eigenen Möglichkeiten, erfolgreich zu handeln nicht nur nicht überschätzt, sondern unterschätzt!
2. Aktionismus: Man beweist den anderen, aber vor allem sich selbst, dass man etwas tun kann. Was man da tut ist weitgehend gleichgültig, hauptsächlich es ist erfolgreich. Man braucht aber oft gar nichts zu tun, um sich selbst zu beweisen, dass man viel tun kann. Oft hilft es schon allein, dass man sich ein großes Ziel setzt. Allein das zeigt ja schon, dass man sich sehr viel zutraut. – Das Setzen von großen Zielen ist eine bei Politikern sehr beliebte Sportart.
3. Wahrung bzw. Verstärkung der sozialen Einbindung: „Elf Freunde sollt ihr sein!“ meinte Sepp Herberger, langjähriger Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft. In der Tat ist eines der besten Mittel gegen Depressionen, gegen das Gefühl, den Dingen nicht gewachsen zu sein, die soziale Einbindung. Man weiß: da sind andere, die mir helfen, wenn es gefährlich wird! – Was ist denn dagegen einzuwenden? Das ist doch ganz klar! – Schauen wir mal!
Diese drei Motive spielen eine bedeutsame Rolle bei der Handlungsregulation in politischen Situationen. Und das wollen wir jetzt besprechen.
Beginnen wir mit der Kausalillusion. Wenn man daran glaubt, dass der Lockdown bei der „ersten Welle“ im März und April geholfen hat, so weiß man sowohl, dass man etwas tun kann und man weiß auch das die Welt von Corona im Grunde sehr einfach ist. Einfach „lockdownen“! Und schon ist die Sache „gegessen“.
Man folgert nach der Regel „danach, also deswegen!“ („Post hoc ergo propter hoc!“ spotteten bereits die Scholastiker.) Dieser Fehler unterlief Söder und Merkel vielleicht schon bei der sogenannten „ersten Welle“, als sie den natürlichen Verlauf dieser Welle auf ihre eigenen Entscheidungen zurückführten, also auf den Lockdown und andere Maßnahmen; die Schließung von Kitas und Schulen, zum Beispiel. Auf die Idee, sich zunächst einmal zu überlegen, wie man denn mit „Corona“ umgehen sollte, welche Einflussmöglichkeiten es generell geben kann, kam man nicht; den Lockdown übernahm man aus China. Denn „selbst überlegen“ hätte ja bedeutet, sich erneut der Unbestimmtheit auszusetzen, die man gerade eben durch den Entschluss zum Lockdown losgeworden war.
Die eigentlich notwendige Analyse der Tatsache zum Beispiel, dass in verschiedenen Bundesländern „Corona“ ganz verschieden verlief, zum Beispiel in Schleswig-Holstein ganz anders als in Sachsen, wurde nicht untersucht! Im Gegenteil; der Ministerpräsident von Bayern, Markus Söder, setzte sich nachhaltig dafür ein, überall in der Bundesrepublik die gleiche Strategie zu fahren. – Warum eigentlich! Die Schleswig-Holsteiner waren deutlich weniger von „Corona“ betroffen als die Sachsen. Warum nicht die Unterschiede genau untersuchen? Dazu hätte es durchaus gereicht, wenn man 2-3 kluge Leute nach Sachsen bzw. nach Schleswig-Holstein geschickt hätte, um dort zu untersuchen, wie es denn eigentlich hier und da ist, wie es mit den sozialen Beziehungen steht. Denn die Infektionsausbreitung ist ja sehr wesentlich ein sozialer Prozess!
Man kann annehmen, dass die sozialen Unterschiede, beispielsweise im Familienleben eine große Rolle spielen; die wenigen Untersuchungen, die man über die Zusammenhänge von Corona und den Lebensumständen gemacht hat, belegen, dass anscheinend doch die große Menge der Infektionen innerhalb der Familien stattfinden.
Julia kommt von der Schule nach Hause. Julia ist eine 16jährige Gymnasiastin und sie hat Ärger in der Schule gehabt. Entsprechend verdrossen ist ihre Miene als sie nach Hause kommt. Die Mama merkt das, nimmt sie sofort im Flur in den Arm: „Nun red‘ doch mal! Was war denn los?“ Julia erzählt und nach 5 Minuten geht es ihr besser. – Und nach zwei Tagen hat Julia „Corona“ und die Mama nach vier Tagen! Bei beiden verlief das Ganze glimpflich, aber sie verordnen sich beide noch 14 Tage lang Quarantäne und verzichten auch auf den ansonsten sehr engen Kontakt mit den Großeltern. Keine weiteren Folgen. Außer, dass die beiden vielleicht in der Phase, in der sie noch gar nichts von ihrer „Corona“ wussten, noch andere angesteckt haben? Innerhalb der Familie und außerhalb? Und die, die angesteckt wurden, merken das vielleicht auch oft nie. Und stecken unwissentlich weitere Personen an, die dann auch …
Wenn man nun den Leuten solche Fälle erzählte und ihnen sagte: „lasst doch so etwas erst mal!“, dann hätte das vielleicht mehr Effekte, als wenn man völlig uneinsichtige Regeln einführt, zum Beispiel also den Besuch von Museen verbietet. Der enge Kontakt gehört zum Leben, zum sozialen Zusammenhalt und ihn pauschal einzuschränken wird nicht gehen. Pauschale Regelungen führen leicht dazu, dass sich viele Leute einfach nur darüber ärgern. Und da ein Bruch dieser Regeln in den allermeisten Fällen keine unmittelbar negativen Folgen hat, wird er (also der Bruch der Regeln) „Kinder“ bekommen. Warum kann man hier nicht dem japanischen Beispiel folgen?
Spielt bei den Maßnahmen vielleicht das angenehme Gefühl eine Rolle, dass manche Politiker zu haben scheinen, wenn sie doch endlich einmal durchgreifen können? Dieses „Glücksgefühl“ aber führt bei den „Regierten“ aber sehr leicht zu Trotzreaktionen, erzielt also das genaue Gegenteil von dem, was erzielt werden sollte. – Entsprechende Beispiele kann man leicht, zum Beispiel von Lehrern, erfahren! Wann hat Ministerpräsident Söder zuletzt mit einem Grundschullehrer, der in Coronazeiten versucht, so eine Art von Unterricht aufrechtzuerhalten, gesprochen? – Solche Erfahrungen werden ja von den Politikern gar nicht erst gesucht. Denn wenn man nach solchen Erfahrungen fragen würde, dann käme ja vielleicht ‘raus, dass die „Regierungsaktion“ ein Flop war! – Politiker lieben das „ballistische“ Handeln: Die Kanonenkugel wird abgeschossen, der Abschluss wird bejubelt, wo aber das Projektil schließlich einschlägt, interessiert den Politiker nicht mehr. Denn es könnte ja ein Misserfolg sein! Und Misserfolge kann nun ein Politiker, der an seiner öffentlichen Resonanz interessiert ist und sich sehr gern auch als erfolgreicher „Macher“ sieht, gar nicht brauchen! Das ist schädlich für das Selbstwertgefühl! Wenn man aber Misserfolge gar nicht wahrnimmt, dann ist die Welt wieder einfach. Man weiß, was man zu tun hat.
Und daraus ergibt sich der nächste Fehler, Methodismus. Dieser Fehler ergibt sich aus der Kausalillusion; nachdem man der Meinung war, dass sich der Lockdown im März und April hervorragend bewährt habe, wendete man ihn im Oktober und November wieder ein. Bislang ohne jeden messbaren Erfolg! (s.o.) – Warum stellte sich kein Erfolg ein? Nun, aus denselben Gründen, aus denen sich im März und April kein Erfolg einstellte. Der allerwichtigste Grund für die Zu- und Abnahme der Infektionen im März und April und auch dann späterhin, war einfach der normale, durch die Gompertzfunktion beschreibbare Verlauf der Infektion. – Bis zum heutigen Tage hat man nicht eingesehen, dass ein Wachstumsprozess einen natürlichen Verlauf hat, bei dem die Zuwachsraten zunächst größer und dann wieder kleiner werden.
Als die zweite Welle im November zu einem Plateau wurde und dann abzunehmen begann, meinte der Bundesgesundheitsminister Spahn am 21. November: „wir haben das exponentielle Wachstum gebrochen!“ Von Wachstumsfunktionen hatte er anscheinend bis dato nichts gehört. Als Gesundheitsminister! Nach einem dreiviertel Jahr Corona!! Und dabei konnte man das alles sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Welle wunderbar beobachten; in beiden Fällen traten klar sichtbare Sigmoide auf. Die Zuwachszahlen nahmen – wie auf Schienen laufend – erst zu und dann wieder – Ende März und Anfang April – ab. (Bei der 2. Februar-Welle wurde die Abnahme der Zuwachsraten durch die „dritte Welle“ gestoppt.)
Man kann also nicht nur etwas sehen, was gar nicht da ist (konfirmative Wahrnehmung), man kann auch das, was deutlich sichtbar ist, nicht sehen (Wahrnehmungsabwehr). Und das gilt besonders für Misserfolge.
Das, was wir eben kritisierten, war nicht nur der Methodismus, sondern auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Man sollte sich nicht nur fragen: „Was habe ich richtig gemacht?“ Viel wichtiger ist die Frage: „Was habe ich falsch gemacht?“ Diese Frage aber stellen sich Politiker gewöhnlich nicht.
In ihrer Regierungserklärung am 29. Oktober erklärte die Bundeskanzlerin, dass die nunmehr beschlossenen Maßnahmen „geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“ seien. Es zeigte sich, dass sie weder geeignet, aus diesem Grunde auch nicht erforderlich und deshalb auch nicht verhältnismäßig waren (wenn man an die negativen Folgen des Lockdowns für die Wirtschaft denkt, denen keine positiven Folgen gegenüberstanden). – Hat man von der Bundeskanzlerin jemals etwas darüber gehört, dass sie sich geirrt habe? Dass sie sich selbst überschätzt hätte? Nein, nie! Sie sprach in ihrer Neujahrsansprache von „einigen wenigen Unverbesserlichen“, verriet aber nicht, auf welche Weise diese wenigen den Null-Erfolg der Maßnahmen vom 29. Oktober hervorgebracht haben. Denn wenn nur wenige sich nicht an die Maßnahmen gehalten hätten, dann müßte doch zumindest ein kleiner Erfolg sichtbar sein?! Hier wird also der Misserfolg extern attribuiert; „ich habe die Angelegenheit richtig eingeschätzt, sondern die „wenigen Unverbesserlichen“ haben die Suppe versalzen!“
Das Reden von den „einigen wenigen Unverbesserlichen“ weist auf einen weiteren Fehler bei der Wahrnehmung der Realität hin. Für die Kanzlerin gibt es nur schwarz-weiß. Es gibt die Leute, die sich an die Regeln halten und die „einigen wenigen Unverbesserlichen“, es gibt nur richtig und falsch. Das Zwischenfeld bleibt unbesetzt. Und so geht es weiter: Es gibt nur die richtigen Informationen, die die Kanzlerin kennt und es gibt die anderen, die nicht Informationen, sondern „Verschwörungstheorien“ produzieren. Und diese sind, ohne jegliche Unterscheidung, „unwahr und gefährlich, zynisch und grausam“. So die Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrsansprache. – So hat man sich dann eingemauert! Drinnen sind die Freunde, draußen sind die Feinde! – Warum lebt die Kanzlerin in einer manichäischen Welt? Das sollte man sich einmal überlegen!
Heute am 5.1.2021 treffen sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder um über weitere Maßnahmen zu beschließen. Sind das eigentlich Ärzte, Epidemiologen, Soziologen, Psychologen, Psychiater? Also: sind Fachleute dabei? Wahrscheinlich Herr Drosten. Aber auch Herr Streeck? Nein! Der nicht! Das ist ein Quertreiber! (Um nicht zu sagen: ein „Querdenker!“ Und ein „Querdenker“ ist schon fast ein Faschist!) – Es sind nur Leute anwesend, die im wesentlichen dieselben Auffassungen haben wie die Kanzlerin, aber Facherfahrungen kaum mitbringen.
Es gibt einige Regeln für Beratungen und Besprechungen in der Politik, die man berücksichtigen sollte. Eine uralte Regel ist, dass die Teilnehmer eines Entscheidungsgremiums selbstständig denken können sollen. Das forderte Platon schon in der Politeia. Er verlangte Bedachtsamkeit, also die Fähigkeit, das eigene Denken bedenken zu können. In politischen Gremien, die auf die Lösung von Langfristproblemen zielen, sollte man tunlichst Personen einbringen, die ihre eigenen Meinungen haben. Und die sich ihre Meinungen immer wieder selbst neu bilden können. – Napoleon meinte einmal zu seinem langjährigen Berater Caulaincourt: „Ich habe 60 Schlachten geschlagen und aus keiner etwas für die folgenden gelernt!“ Und ähnlich äußerte sich Clausewitz, der meinte, dass man in jeder Situation immer wieder neu denken müsse. Und genauso ein Manager, dessen Namen ich vergessen habe: „Der Erfolg ist dein größter Feind!“ – Übrigens: der vorerwähnte Graf Caulaincourt war kein Freund von Napoleon, sondern eher ein Feind! Er war durch die Umstände an Napoleon gekettet. Und er tat seine Pflicht mehr als französischer Patriot denn als Freund Napoleons. – Wenn in den Beratungsgremien sowieso nur die „Freunde“ sitzen, dann kann man sich das Beratungsgremium eigentlich sparen! – Nein, sparen kann man es sich nicht, denn die allgemeine Akklamation eines größeren Gremiums stärkt das Selbstgefühl ganz ungemein. Und so verstärkt sich so das Gefühl, dass die falsche Realitätssicht die richtige ist.
So, und nun suchen Sie einmal im Umkreis unserer Kanzlerin nach selbstständig denkenden, also bedachtsamen Personen! Altmaier?, Braun?, Seibert? – Die finden Sie nicht! Die findet man nur „außerhalb der Mauern“. Manichäer aber hassen das Böse! Und das Böse kann natürlich nie das Richtige sein!
Noch eine Anmerkung zur Regierungserklärung der Kanzlerin am 29.10.2020: Die Kanzlerin meinte, die beschlossenen Maßnahmen seien „geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“. Ein kennzeichnendes Merkmal von politischen Verhältnissen ist ihre große Unbestimmtheit. Die ist wohl kaum ganz zu beseitigen. Insofern sollte man (es sei denn, man ist ein Polizeioffizier im Einsatz) immer daran denken, dass man nicht notwendigerweise recht hat mit seinen Annahmen. Also solche Aussagen wie „Wir schaffen das!“ oder „Die Maßnahmen sind geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“ sollte man unterlassen. Denn es ist sehr leicht möglich, dass sie sich als falsch erweisen.
Und es ist sehr vernünftig, wenn man die Betroffenen auf die Unbestimmtheit aufmerksam macht, die nie ganz zu beseitigen ist. Wenn man gesagt hätte: „nach meinem jetzigen Kenntnisstand, sind die Maßnahmen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“, dann wäre dagegen nichts einzuwenden gewesen und es wäre auch der Kanzlerin leichtgefallen, gegebenenfalls einen Kurswechsel durchzuführen. Es hätte ihr erlaubt zu sagen: „Ich habe mich getäuscht, die Maßnahmen waren nicht geeignet; nun müssen wir einmal untersuchen, warum das der Fall war!“ Sie hätte sogar sagen können: „das mit dem Lockdown, das kostet mehr als es bringt! Lassen wir das lieber!“ – Da aber die Kanzlerin sich festgelegt hatte, wäre ein Kurswechsel peinlich gewesen. Die Kanzlerin hat sich selbst dazu verdammt, ihren Kurs fortzusetzen! – (Ich las neulich, dass eine Woche Lockdown 3 Milliarden € kosten! Wie viele Krankenhäuser könnte man damit bauen? So aber ist das Geld nur einfach weg!)
Weitere Frage: Warum liebt es die Kanzlerin, unbedingte, positive Prognosen abzugeben? („Wir schaffen das!“, Die Maßnahmen sind „geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“!) – Churchill, als er im Zweiten Weltkrieg, nach der französischen Kapitulation vor Deutschland, sich entschloss, den Krieg gegen Hitler allein fortzuführen, hat sich gehütet, dem englischen Volk zu sagen „Wir schaffen das!“. Vielmehr hat er höchst negative Ereignisse prognostiziert („Blood, sweat and tears!“) und das Ergebnis offen gelassen. Aber Churchill war eben ein Politiker!
Dietrich Dörner
Trimberg Research Academy, Otto-Friedrich-Universität Bamberg
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Nachtrag DD 30.1.2021: Da inzwischen einige die Gompertz-Zahlen ziemlich regelmäßig anfordern, schicke ich jetzt die aktuellen Abbildungen einfach als Sammelpaket. Ich bitte um Entschuldigung für diese kollektive Behandlung, aber das spart mir eine Menge Arbeit!
Abbildung 6: Aktualisierte Verlaufsdaten (zum Vergrößern anklicken). Legende: Hellblaue Quadrate: RKI berichtet über die jeweilig aktuellen Zahlen der Neuinfizierten. Dunkelblaue Quadrate: 7-Tage-Mittel der hellblauen Quadrate. Rote Quadrate: Gompertzabschätzungen der Anzahl der Infizierten. (Ab dem 24. November als Summe zweier Gompertzfunktionen.)Rote Rauten: Fortsetzung der „zweiten Welle“ (die ja immer noch aktiv ist!) Gelbe Rauten: Die isolierte und waagerecht gestellte „dritte Welle“, die in der Zeichnung auf der „zweiten Welle“ aufliegt. Grüne Dreiecke: Summiertes Wachstum (betrifft nur die „zweite Welle“).
Viele haben gefragt, wie es denn kommt, dass man ausgerechnet aufgrund der Gompertzfunktion so gute Voraussagen eines Infektionverlaufs machen kann. Ich glaube, dass für ein Verständnis eine Analogie ganz hilfreich ist: die Gompertzfunktion ist eine allgemeine Wachstumsfunktion, die zum Beispiel auch Verbrennungsprozesse abbildet. Jeder, der ein Kaminfeuer entzündet, weiß, dass das Feuer erst langsam anbrennt, solange nur die ersten dünnen Zweige, die man als Zünder unter die Mitte des Feuerholzes gelegt hat, brennen. Dann fangen erst langsam und dann immer schneller auch die dickeren Scheite zu brennen an. Dann flammt das Feuer hoch, das Wachstum ist sehr schnell. Dann aber verlangsamt sich das Wachstum wieder und geht, immer langsamer werdend, gegen null. Und selbst am nächsten Morgen findet man vielleicht noch eine einige kleine Glutherde! – Genau das ist ein Gompertz-Prozess, ein asymmetrisch-sigmoidaler Prozess. Nur dass hier das „Holz“ durch Feuer „infiziert“ wird, nicht durch einen Virus. – Diese Analogie hilft es, zu verstehen, dass eine Infektion genau so ablaufen muss, wie es die Gompertzfunktion vorschreibt! – Und es macht dann eben einen Unterschied, ob man Eichenholz verbrennt oder Birkenholz oder das alles gemischt. Die Zusammensetzung des Brennholzes und seine Menge bildet man in den Parametern A, B und C ab. – Und wenn man das Feuer löschen will, indem man einen Eimer Wasser draufgießt, dann hängt der Erfolg davon ab, ob man wirklich Wasser draufgießt oder aber Öl oder beides gemischt, und davon, ob man das Wasser auch wirklich ins Feuer gießt und nicht daneben! Und wenn sich vor dem Feuer eine Glasscheibe (gegen den Funkenflug) befindet, klappt das vielleicht auch nicht so recht mit dem Löschprozess.
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Nachtrag 2.2.2021: Hallo, hier kommen die heutigen Zahlen direkt zweimal!
Abbildung 7a und 7b: Aktualisierte Verlaufsdaten.
Warum zweimal? Das ist auf zwei Briefe, von Alexis K. und von Pia D., zurückzuführen. Und da die diskutierten Themen vielleicht von allgemeinem Interesse sind, folgt nun die Antwort: Liebe Pia, lieber Alexis, kluge Fragen! Ich nehme schon an, dass der Gompertz an so etwas wie „Eingriffe“ gedacht hat. Zumindest kann man seine Funktion durchaus variabel machen, indem man A, B und C nicht als Konstante verwendet, sondern als Funktionen. Das wäre ein Handgriff im Programm. Ich hab‘ das mal gemacht und schicke zwei Diagramme mit. Man sieht, dass für das eine Diagramm für die zweite Gompertzkurve die herkömmlichen, meine gewöhnlichen Parameter, verwendet wurden, für die zweite Kurve im zweiten Diagramm aber andere Parameter. Das sieht dann – im Moment zumindest – so aus, als würde es besser passen.
Statt das nun in zwei verschiedenen Programmläufen zu machen, kann man das auch in einem Programm machen, kann also die ganze Sache so programmieren, dass zum Beispiel ab dem 18. Januar die Kurve der roten Quadrate leicht angehoben und vielleicht „bauchiger“ gemacht wird (Veränderung von A und C). Und das könnte man auch schrittweise einführen, dann sieht man es kaum. Und so könnte man die Leute hübsch betrügen; man müsste dann schon nachrechnen, um den Betrug zu entlarven und auf die Idee kommt natürlich keiner, weil es einen gewissen Aufwand bedeutet und man ja auch gar keinen Verdacht schöpft. – Wenn man aber die ganze Sache offen sagt, ist dagegen nichts einzuwenden! Im Gegenteil man würde sich dann in dieser Weise festlegen auf die Voraussage, dass die Maßnahmen das und das bringen! – (Ich möchte aber den Politiker sehen, der sich in dieser Weise festlegt! – Unsere Bundeskanzlerin hatte allerdings am 29. Oktober gesagt, dass die Maßnahmen „geeignet, erforderlich und verhältnismäßig“ seien. Ohne Konjunktiv! Aber darauf ist sie nie zurückgekommen!)
Natürlich hast du recht, Pia, wenn du meinst, dass die Leute sich eben nicht daran gehalten haben. Aber auf der anderen Seite haben sie sich wahrscheinlich schon an die „alten“ Maßnahmen gehalten (Masken, Abstände, usw.) und an die neuen vielleicht oft deshalb nicht, weil sie sich zum Beispiel darüber geärgert haben, dass sich Ehepaare nicht mehr zusammen treffen dürfen, usw. (In der Beziehung wurde aber keinerlei Forschung betrieben; es wurden nicht die Leute in seriöser Weise befragt, an welche Regelungen sie sich halten und an welche nicht. Das wäre ja eigentlich wichtig gewesen, dass man herausbekommt, an welchen Stellen die Leute einfach aus Ärger trotzig wurden. Das ist eben auch eine psychologische Reaktion, mit der man rechnen sollte!)
Zurück zu den Gompertzkurven: in den letzten zehn Tagen lag zwar die empirische Kurve (blaue Quadrate) sehr schön parallel zu der roten Kurve, aber doch schon mit einem ziemlich großen Abstand, zumindest wenn man die bisherigen Voraussagen von Benjamin Gompertz betrachtet. Das kann Zufall sein, aber mir ist das eigentlich schon ein bisschen zu viel! Es kann sein, dass ich mich einfach zu Anfang bei den Parametern verschätzt habe, denn am 5. oder 8. Dezember hatte ich ja erst wenige Daten für die Parameter Schätzung. Und da zum Beispiel bei C schon die dritte, Nachkommastelle einen ziemlich gewaltigen Einfluss hat, ist es schon möglich, dass ich nachjustieren muss. Es kann aber auch sein, dass ein Nachjustieren gar nichts bringt, weil ganz einfach eben die Parameter gewechselt haben und man im Grunde mit zwei verschiedenen Gompertzkurven rechnen müsste, mit verschiedenen Parametern. Zu denken wäre beispielsweise an die Mutanten. Dass die empirischen Werte seit zehn Tagen oder zwölf immer höher liegen als die Werte der ursprünglich benutzten zweiten Gompertzkurve, würde ja für eine Verschlechterung (in der Verbesserung) der Lage sprechen. Es könnte zum Beispiel sein, dass das „Home Office“ nicht nur zu einer Verminderung der Kontakte, sondern zu einer Vermehrung der „familiären“ Kontakte führt. (Denkt mal an die Julia-Geschichte!) Also: die kleine Nike, fünf Jahre alt, kommt aus dem Kindergarten nach Hause und fällt dem Papa im Home-Office um den Hals. Nike wird vermutlich überhaupt niemals merken, dass sie Corona infiziert war. Der Papa unter Umständen aber schon. Und wenn nicht: er kann ja seine Infektion durchaus trotzdem weitergeben! – Das wenige, was die Nachverfolgungen gebracht haben, ist, dass die familiären Ansteckungen deutlich in der Mehrzahl sind. (Grafik aus dem Handelsblatt liegt bei.) Mir erzählte neulich eine Frau, die bei Bosch in der Personalabteilung arbeitet, dass so gut wie alle Corona-Fälle bei Ihnen im Betrieb auf familiäre Infektionen zurückzuführen seien. (Natürlich sind hier Familien mit Kindern besonders „gefährdet“.) Also vielleicht hat der Herr Minister Heil ein Eigentor geschossen mit seiner Home-Office Verpflichtung. Und hat vielleicht die Sache zu undifferenziert betrachtet! (Eins ist aber ziemlich sicher! Er wird das niemals zugeben!)
Es kann aber auch sein, dass man das Ganze gar nicht mehr mit einer Gompertzkurve beschreiben kann, weil andere Umstände eingetreten sind, die sich nicht „gompertzianisch“ verhalten. Solche nicht-Gompertz-Einflüsse wären wohl die Impfungen. Wenn sie wirklich nach einer gewissen Zeit verfallen, dann könnte man das so regeln, dass man A in gewissen Zeitabständen erhöht, also die Anzahl derjenigen, die angesteckt werden können. Ich würde das aber gar nicht mehr mit einer Funktion machen, sondern würde dafür ein „echtes“ Simulationsprogramm verwenden. (Ich habe so etwas mal gemacht; das ist auch gar nicht schwer, aber ich hab allein keine Zeit dafür, das weiter auszubauen.) Denn so schön und elegant die Gompertzfunktion ist: sie ist halt doch grob, weil sie hinsichtlich der Ansteckungswege, der Behandlungen usw. usw. nur in Grenzen Differenzierungen erlaubt.
So, soweit meine Anmerkungen zu Alexis und Pia!
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Nachtrag DD 5.2.2021: Hier einmal wieder die neuesten Zahlen der Neuinfizierten und die zugehörigen Gompertz-Zahlen. Im ganzen bleibt der Trend erhalten, also die Abnahme der Anzahl der Neuinfizierten seit dem 24. Dezember. Bislang ergeben sich keine besonderen Veränderungen. Die Gompertzprognosen passen gut zur Empirie. Aber die letzten 5 – 6 Zahlen liegen wieder etwas über den Gompertzzahlen, was für eine Zunahme der Infektiosität sprechen könnte. Das könnten die neuen Mutanten sein? Aber warten wir zunächst mal die Wochenendzahlen ab, die natürlich bei einem Sieben-Tage-Mittel dazugehören.
Abbildung 8: Aktualisierte Verlaufsdaten 5.2.2021.
Wenn man aber hört, dass inzwischen etwa 5-6 % der Neuinfizierten mit einer neuen Corona-Mutante einer höheren Infektiosität infiziert sein sollen, dann sollte man auf die Entwicklung achten. Bislang habe ich mitunter die Parameter nachjustiert und das war möglich, ohne dass man die Gesamtpassung (gemessen zum Beispiel als Summe der Abweichungsquadrate der roten oder blauen Rechtecke) verschlechterte; sie verbesserte sich eher noch.
Also auch die frühere Passung vom 19. November bis etwa zum 24. Dezember. Solche Änderungen gehen aber nicht ewig; denn bei den Gompertz-Kurven ist das ja so, dass buchstäblich jeder Punkt mit jedem anderen zusammenhängt. Eine isolierte Änderung der Parameter ist ganz unmöglich; ändert man A, so muss man auch B und C ändern, um die Gesamtpassung aufrecht zu erhalten. Bislang konnte man immer noch sagen: du hast dich zu Beginn, Anfang Dezember, mit den Parametern verschätzt; kein Wunder, es waren da ja auch bislang erst wenige Zahlen vorhanden. Besonders, wenn sich mit einer Anpassung an die späteren Zahlen auch die Passung der früheren Zahlen verbesserte, ist das alles in Ordnung.
Aber das braucht nicht der Fall zu sein, es kann sein, dass eben nicht nur Verschätzungen entlarvt werden, sondern sich die Parameter „wirklich“ verändern. Dann würde eine Parameteränderung nicht eine Verbesserung der Gesamtpassung bewirken, sondern deren Verschlechterung! Und dann dürfte man eine Änderung nicht mehr als „Nachjustierung“, als Korrektur früherer Schätzfehler betrachten, sondern sie würde bedeuten, dass nunmehr die Parameter sich wirklich, in der Realität, verändert haben.
Immerhin wären die Gompertz-Kurven auch in diesem Falle ganz brauchbar. Man würde zeigen, dass diese Gompertz-Modellierung, bzw. ihr Misserfolg, aufmerksam macht auf Parameteränderungen. Aber wenn der Prozess im Gang bleibt, dann verändert sich ja täglich das Verhältnis der mit dem traditionellen Coronavirus neuinfizierten und derjenigen, die mit der Mutante Infiziert werden. Dann müsste man, wenn man das Ausmaß der täglichen Veränderungen kennt, täglich mit anderen Parametern arbeiten. Auch das ließe sich machen! – Aber man müsste auch wissen, ob vielleicht bislang wenig Infizierbare oder gar nicht Infizierbare auch infiziert werden können? Dann würde sich A verändern müssen!
Mal sehen!
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Nachtrag DD 14.2.2021: Hier sind die neuesten Zahlen der Neuinfizierten.
Abbildung 10a und 10b: Aktualisierte Verlaufsdaten (Anklicken zum Vergrößern).
Im Augenblick sieht es nicht so aus, als ob die Mutanten „durchschlagen“. Sondern es geht in geradezu unheimlicher Weise seinen gewohnten Gang. – Ich habe bislang die „Gompertz-Botschaft“ nicht breit gestreut, aber die Leute, die irgendwie davon erfahren und nachfragen, mehren sich. Ich habe die wichtigsten Fragen in einem kleinen Aufsatz beantwortet, den ich auch beifüge. Und die Leute, die nachfragen, kriegen halt nur diesen Aufsatz. – Ich wollte eigentlich kein Diskussionsforum für „Corona“ aufmachen.
Es ist mir rätselhaft, dass das RKI an „Gompertz“ so vorbeigehen konnte und es spricht auch eher für die schlechte Organisation des wissenschaftlichen Beraterteams der Bundeskanzlerin, die ihre Berater anscheinend so auswählt, dass sie nur eine Meinung zu hören bekommt. Sehr schlimmer Fehler! „The victims of groupthink!“
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Nachtrag 22.2.2021: Hier sind die neuesten Coronadaten.
Abbildung 11a und 11b: Aktualisierte Verlaufsdaten (Anklicken zum Vergrößern).
Ich habe mich darum bemüht, die Parameter der neuen, „dritten Welle“, die wohl eigentlich die vierte Welle ist, aufgrund der letzten Tage zu schätzen. Diese Daten (der „Balken“) sind meines Erachtens sehr gut. Sie zeigen einmal eine hohe interne Konsistenz im Hinblick auf die Richtung und die Aufeinanderfolge; dass eine solche Reihe von sieben Daten durch Zufall zustandekommt, ist sehr unwahrscheinlich. Ich würde mich wundern, wenn die Schätzung grob falsch wäre. Die Daten vom 19. November an, die auf die „dritte“ Welle hindeuteten, waren längst nicht so gut und trotzdem gelang es, ziemlich gute Parameter für die Prognose zu schätzen. Nun ja, mal sehen! Ich sende auch die „waagerechten“ Daten mit, um den Unterschied zu zeigen und um zu demonstrieren, wie geschätzt wurde. (Man ermittelt erst die grobe Form mithilfe der Einstellung des Parameters C. Dann schiebt man mit B die Kurve an ihren Platz und justiert dabei C unter Umständen noch nach. Und dann kommt der Parameter A also die Asymptote. – Tja, wenn das so einfach wäre … !)
Außerordentlich dramatisch sind die Daten nicht, zumindest nicht, wenn man die Kurve mit der Pushmeldung der FAZ vergleicht, die gerade eben über meinen Bildschirm flackerte: „Rasende Ausbreitung der Mutanten!“ (Es hat schon erheblich „Rasenderes“ gegeben im letzten Jahr!) Man sollte aber auch bedenken, dass das (man kann es den Parametern entnehmen) ca. 100.000 Neuinfizierte mehr bedeuten könnte. Und die entsprechende Anzahl von Toten! – Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass „Maßnahmen“, die nunmehr neu getroffen werden (damit ist wohl mit Sicherheit zu rechnen!), sich in einer Senkung der Kurve unter das Gompertz-Niveau zeigen müssten, um eine Wirksamkeit anzuzeigen.
Abbildung 12. Ausschnitt
Noch ein Hinweis: der Balken mit den sieben waagerecht aufeinander folgenden Zahlen vom 13.2. bis zum 21.2. ist eigentlich kein „Plateau“, wie der Gesundheitsminister Spahn meint, sondern er steht ja (im Diagramm deutlich sichtbar) auf der niedergehenden Summe der zweiten und der dritten Welle. Er steht also auf einer schiefen Ebene und ist deshalb als Anstieg, sogar als (leicht) beschleunigter Anstieg, kaum erkennbar. Erkennbar wird das erst, wenn man ihn „waagerecht“ aufstellt. Das muss man sehen, und das hat keiner gesehen, der den steilen Anstieg vor Weihnachten als eine Fortsetzung der zweiten Welle betrachtete und nicht als eine „dritte Welle“ identifizierte. Die Nichtbeachtung der Gompertz-Kurve (die ja diese schiefe Ebene erzeugt!) führt zu einem falschen Bild der Ausbreitung von Corona und damit auch zu falschen Folgerungen im Hinblick auf die Bekämpfungsmaßnahmen. Noch einmal sei der Hinweis darauf erlaubt, dass sowohl die Bundeskanzlerin als auch Herr Wieler vom RKI den Gompertz-Niedergang der Infektionszahlen vom 10. Januar an als einen Effekt der Maßnahmen der Bundesregierung identifizierten! Die hätten sich also bewährt! Und deshalb könne man genauso weitermachen! (Wenn ein Auto einen Berg herabrollt und dabei immer schneller wird, muss das nicht unbedingt bedeuten, dass der Motor gut funktioniert!)
Solche Fehlurteile kosten Menschenleben! Und zwar unnötigerweise! – In der FAZ findet man am Donnerstag (18.2.2021, Seite 5) einen Leserbrief von Professor Dr. Karl J. Lackner aus Mainz. Lackner stellt fest, dass etwa 17,000 Todesfälle bei alten Leuten hätten vermieden werden können. Warum das nicht geschah und auf welche Weise es nicht geschah, möge Sie sich überlegen. Man sollte einmal wirklich untersuchen, wie es kommt, dass die massiven Maßnahmen der Bundesregierung kaum Folgen im Hinblick auf die Infektionszahlen mit sich brachten.
In dem vorletzten Kommentar zu den „Neuen Zahlen“, hatte ich gemeint, dass die hohe Zahl von Neuinfizierten am 10. Februar wohl der Wendepunkt einer ansteigenden Entwicklung sein könnte, vielleicht der Wendepunkt der „Mutantenwelle“. Ich hatte das mit einigem Triumph festgestellt! Fehler!
Wahrscheinlich ist der auf den Wunsch zurückzuführen, dass doch endlich ein starker Niedergang der Infektionszahlen der Fall sein solle. Konfirmative Wahrnehmung! Vor solchen Fehlern sollte man eigentlich gefeit sein, wenn man sich mit politischem Denken beschäftigt. Ist man aber nicht! – In der Tat kann man diese „Beule“ etwa vom 30. Januar bis zum 13. Februar nicht als „kleine“ Gompertz-Kurve erklären oder nur mit großen Verrenkungen. So bleibt sie unerklärt, vielleicht enthält diese ganze Phase eine Reihe von kleinen Fällen des „Aufflackerns“ der Anzahl von Infektionszahlen in einzelnen Landkreisen oder Städten, die aber dann doch nicht nachhaltig waren. Gewissermaßen Zündungen, die dann eben doch nicht richtig durchschlugen. Warum nicht? – So etwas zu wissen, wäre wichtig. Denn dann wüsste man, an welchen Schräubchen man drehen müsste, um das Aufflackern einer Infektion zu verhindern. Und 3, 4 Fallstudien anzustellen, wäre auch kein großer Aufwand.
So hat der Landkreis Tirschenreuth seit einiger Zeit sehr hohe Infektionszahlen. In der letzten Woche 358 pro 100.000 Einwohner. Im Landkreis Tirschenreuth wohnen 72.918 Einwohner. Also gab es in Tirschenreuth in dieser Woche 261 Neuinfizierte. Und (z.B.) Dithmarschen hat niedrigere Infektionszahlen! In dieser Woche 13.5 pro 100.000 Einwohner. Dithmarschen hat 133.193 Einwohner. Also gab es in der vergangenen Woche 18 neuinfizierte Einwohner. Also nur 14.5 % in Bezug auf die Zahl der Neuinfizierten in Tirschenreuth. Aber die Betten für die Intensivversorgung sind in beiden Landkreisen in folgender Weise belegt: In Dithmarschen gibt es 3 Covid Fälle, die 3 der 38 Intensivbetten belegen. 3 von 18! In Tirschenreuth gibt es 7 Covid Fälle, die 7 der 14 Intensivbetten belegen. 7 von 261! In Tirschenreuth müsste es eigentlich etwa 43 Personen geben, die ein Intensivbett beanspruchen. Also: irgendetwas stimmt hier nicht. Die Anzahl der Intensivpflegepatienten pro Infektionsfall ist in Dithmarschen offensichtlichermassen sehr viel größer als in Tirschenreuth! Was besagt also die Anzahl von Infizierten für die Anzahl der Erkrankten? Je mehr Infizierte desto weniger Kranke? Komisch! – Man findet mehr Beispiele dieser Art!
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Hinweis von J.F.: An der Universität des Saarlandes gibt es (eingerichtet von Thorsten Lehr) einen Covid-19-Simulator.
Aktuelle Zahlen zur Covid-19-Lage liefert das Robert-Koch-Institut.
For english-speaking readers, checkout https://www.linkedin.com/pulse/corona-model-germany-discussion-dr-alexis-katechakis
Hier weitere Arbeiten anderer Forschungsgruppen, die mit Gompertz arbeiten:
1982 Ärzteblatt: Wachstumsfunktionen: Exponentialfunktion — Logistische Funktion — Gompertz-Funktion: https://www.aerzteblatt.de/archiv/140732/Wachstumsfunktionen-Exponentialfunktion-Logistische-Funktion-Gompertz-Funktion8.4.2020 Wo geht die Reise hin? Einschätzung vom 8. April: https://www.macro.economics.uni-mainz.de/2020/04/08/wo-geht-die-reise-hin-einschatzung-vom-8-april/2020 Die zweite Welle? Walter Mohr und Frank W. Püschel: https://www.heise.de/tp/features/Die-zweite-Welle-4886422.html2020 Universality in COVID-19 spread in view of the Gompertz function: https://academic.oup.com/ptep/article/2020/12/123J01/5917637Gompertz-Funktion zu den Corona-Toten in Italien: https://www.geogebra.org/m/nqcpskva2020 Predicting the number of total COVID-19 cases and deaths in Brazil by the Gompertz model: https://link.springer.com/article/10.1007/s11071-020-06056-w2020 Empirical model for short-time prediction of COVID-19 spreading: https://dx.plos.org/10.1371/journal.pcbi.1008431