Im Rahmen meiner Interview-Reihe mit Ehemaligen und Heutigen am Psychologischen Institut der Uni Heidelberg sowie mit weiteren relevanten Personen habe ich jüngst ein Interview mit Lenelis Kruse geführt (YouTube Channel „Oral History„), mit der ich schon seit längerem an einem Handbuch-Artikel zum Thema „Umweltpsychologie“ im Rahmen eines HCE-Publikationsprojekts zusammenarbeite. Dabei kam die Frage auf, wie in den 1970er Jahren Heidelberg zu einem Schwerpunkt in der Umweltpsychologie wurde (dabei wollen wir nicht vergessen, dass der 1877 in Schlesien geborene und 1955 in Heidelberg verstorbene Psychologe Willy Hellpach – ein Wundt-Schüler – mit seinem erstmal 1911 erschienenen und in späteren Auflagen „Geopsyche“ betitelten Werk als einer der „Väter“ der modernen Umweltpsychologie gelten darf). – Im Nachgang zu unserem Gespräch schreibt mir Lenelis Kruse:
„Deine Frage nach der Entstehung eines Heidelberger Schwerpunkts „Umweltpsychologie“ hat mich zum Nachdenken und Nachsuchen gebracht. Wann fing das eigentlich an? Nicht schon zu Zeiten meiner Dissertation (1972), die sich ja auch ganz wesentlich mit phänomenologischen Ansätzen zur Lebenswelt, Leiblichkeit, sozialem Raum etc. beschäftigte. Früher war man noch ein einsamer Doktorand, der vor sich hin arbeitete, oft einsam und frustriert. Es gab ja noch keinerlei Doktoranden-Seminare oder gar ein Doktoranden-Programm, wie heute. Für die schwerpunktmäßige Entwicklung in Heidelberg war das DFG-Schwerpunkt-Programm (SPP) „Psychologische Ökologie“ von 1978 bis 1988, aber auch schon dessen Vorbereitung seit 1974 wichtig.
Seit 1978 gab es ein DFG-SPP „Psychologische Ökologie“ (das musste so heißen nach Intervention der Naturwissenschaftler – wir, die Antragsteller, wollten Ökologische Psychologie). Dieses SPP wurde nach dem Kongress der DGPs 1974 in Salzburg mit Gerhard Kaminskis Organisation eines Symposiums zur „Umweltpsychologie“ durch eine Arbeitsgruppe bestehend aus Lutz Eckensberger (Saarbrücken), Kurt Pawlik (Hamburg), Carl-Friedrich Graumann (Heidelberg), Jürgen Franke (Nürnberg), Wolfgang Hawel (Dortmund), Kurt Stapf (Tübingen), Wolfgang Schönpflug (Berlin), Ernst Boesch (Saarbrücken), dann noch dazu Lenelis Kruse (Heidelberg), Ernst-Dieter Lantermann (damals noch Aachen), Clemens Trudewind (Bochum), Hugo Schmale (Hamburg) in mehreren Tagungen, unterstützt von der Werner-Reimers-Stiftung (Bad Homburg), meist auf der Reisensburg bei Günzburg, vorbereitet. Aus diesen Personen bildete sich dann auch eine Zeitlang die eigentliche Umweltpsychologie in Deutschland.
Ich hatte seinerzeit zwei Projekte in diesem SPP. Eines war „Konstruktionen von Privatheit“. Carl-Friedrich Graumann hatte zusammen mit Gerd Schneider ein tolles und sich ausweitendes Projekt zur „Identität von Stadt und der Identifikation der Bürger mit ihrer städtischen Umwelt“. Die Auswertungskategorien waren seinerzeit schon in meinen Seminaren mit einem kleinen Projekt „Walk around the block“ (von Kevin Lynch abgekupfert) entwickelt worden, zusammen mit Gerhard Schneider, Tilman Habermas u.a, die dann auch als Mitarbeiter bzw. HiWis später in dem Projekt gearbeitet haben (heutzutage hätte man längst diese Seminarforschung zu Publikationen ausgebaut). Über lange Zeit waren auch Werner Kany, Marco Lalli und Ernst Weimer als Projektmitarbeiter tätig.
So entwickelte sich die Umweltpsychologie in Heidelberg nach Rückkehr von Carl-Friedrich Graumann und mir aus New York 1974, eben auch durch die Arbeit in und an dem SPP. Leider weiß ich nicht mehr genau, ab wann Umweltpsychologie als forschungsorientiertes Wahlfach im Hauptdiplom auch in der Heidelberger Prüfungsordnung verankert wurde. Neben der „walk around the block“-Methode haben wir übrigens auch – ähnlich der von Jochen Fahrenberg propagierten Technik des Ambulanten Assessment – die Methodik das „walk through Interview“ etabliert (erstmals von Lynch & Rivkin 1959 eingesetzt), bei uns durch die Not geboren, weil wir es sonst in der gerade eröffneten Kopfklinik in HD nie geschafft hätten, Pflegepersonal zu den räumlichen, raumbezogenen Problemen ihrer Tätigkeit zu befragen (in dem von Architekten doch so hochgelobten Klinikneubau).
Durch meine Bekanntschaft mit dem damaligen Chef der Augenklinik Prof. Völcker konnten wir diese Interviews in der Klinik machen. Später, im Rahmen einer Doktorarbeit, war das nicht mehr so leicht möglich. Das Pflegepersonal wurde dann größtenteils nach Feierabend in der Privatwohnung interviewt. „Walk through“ fiel dann flach. Man müsste mal schauen, wer damit sonst oder auch heute noch arbeitet. Es ist einfach eine tolle Methode zur authentischen Datenerfassung vor Ort und eben nicht nur retrospektiv.
Warum war der Aufenthalt 1973/74 am Graduate Center in New York so wichtig für mich? Weil ich dort ein Jahr lang mit Harold Proshansky (der damals gerade Präsident der City University New York geworden war, trotzdem aber mindestens einmal pro Woche im Psychology Department war), mit William Ittelson, der sich sehr für Phänomenologie in der Psychologie und Umweltpsychologie interessierte und zwei seiner Doktoranden immer wieder zu mir schickte, Leanne Rivlin und Gary Winkel, dazu noch Maxine Wolfe und Susan Saegert als den wichtigen Leuten am Department zusammen war. Maxine Wolfe arbeitete zu privacy bei Kindern und psychiatrischen jugendlichen Patienten, Susan Saegert hatte gerade über crowding promoviert, Gary Winkel interessierte sich für Anzeichen der deterioration of city areas (Quartiere würden wir dazu sagen), z.B. heute total diskriminierend (trotzdem wahr): Der Zuzug von immer mehr schwarzen Familien, das Herumhängen von Jugendlichen in Parks, in den Eingängen zu großen Geschäften etc…
Alle Studierenden dort arbeiteten an den verschiedensten Dissertationsthemen. Darüber wurde ständig diskutiert. Hal Proshansky hatte gerade mit einem Doktoranden das Konzept von „place identity“ weiterentwickelt. Dort habe ich natürlich ganz viel mitgekriegt, und das war entscheidend für meine Bewertung von und Einstellung zu Umweltpsychologie und auch einer gewissen Sicherheit, dass dieses ein total wichtiges Thema für die gesamte Psychologie sei.
Wie kam ich nach New York an die City University (CUNY)? Nach meiner Promotion 1972 im heißen Juli war ich auf einer Tagung der Universität Stuttgart, wo es um urbane Umweltforschung ging, ausgerichtet von Architekten und Städteplanern. Da traf ich Gary Winkel. Dieser lud mich dann zum Graduate Programm an die CUNY ein, und so konnte ich mich bei der DFG um ein Forschungsstipendium bewerben. Vorher hatte ich mich um ein DAAD-Stipendium beworben. Einer der Gutachter war Martin Irle (Mannheim), der meinte, dass als Promovierte für mich ein DFG-Stipendium viel besser sei… Ja, so entwickeln sich Karrieren eben auch durch viele Zufälle.
Was bisher noch total fehlt, ist ja mein zweites wirklich sehr aktives Forscherleben im Schwerpunktprogramm „Sprache und Situation“, zusammen mit der Uni Mannheim (Theo Herrmann), wo ja auch Margret Wintermantel über die ganze Laufzeit sehr aktiv war. Mein Schwerpunkt das Thema „Soziale Repräsentation und Sprache“ insbesondere das „Sprechen“ zwischen Männern und Frauen, zwischen Alt und Jung usw. in verschiedenen Projekten (u.a. mit Caja Thimm und auch Sabine Koch als Mitarbeiterinnen). Später konnten wir (Caja Thimm, Sabine Koch und ich) das Thema sogar in einem soziologischen SPP der DFG zum Thema „Professionalisierung und Geschlecht“ noch weiterführen (Theo Herrmann meinte ja ohnehin zu meinen SFB-Projekten zur Sozialen Repräsentation, „das sei Soziologie“. Als eingefleischter Experimentator ging er methodisch an das Thema Sprechen eben ganz anders heran).
Zu dieser Genderthematik siehe übrigens schon den kritischen Beitrag von Margret Wintermantel und mir mit dem Titel „Leadership Ms.-Qualified“ im Band „Changing conceptions of leadership“, 1986 von Carl-Friedrich Graumann und Serge Moscovici herausgegeben und seinerzeit in der Studiengruppe der Werner Reimers-Stiftung entstanden. Meine Antrittsvorlesung an der FernUni Hagen im Jahr 1985 habe ich übrigens genau zu diesem Thema und nicht zu einem umweltpsychologischen Problem gehalten. Das passte m.E. hervorragend zu einer Hochschule mit 80 männlichen Professoren!“
Soweit ein Kommentar, der mir aus heutiger Sicht sehr interessant scheint, zeigt er doch die wichtige Rolle von Zufällen bei der Gestaltung von Berufskarrieren, aber zugleich auch die Bedeutung einzelner signifikanter Personen bei der Prägung von Forschungsfeldern. Warum mir selbst das Thema „Umweltpsychologie“ (UP) am Herzen liegt? Die menschengemachte Zerstörung unseres Planeten stellt ein „komplexes Problem“ dar – es gibt keine einfache Lösung, weil schon das Ziel nicht allen klar ist. Daran müssen wir (intra-, inter- und trans-disziplinär) arbeiten – die Große Transformation (Uwe Schneidewind) kommt nicht von selbst.
In diesen Zeiten bräuchten wir viel mehr UP als wir an deutschsprachigen Psychologie-Instituten vorfinden. Während im Ausland entsprechende Schwerpunktsetzungen deutlich zu erkennen sind (die American Psychological Association erscheint mir hier geradezu vorbildlich), ist eine Berufsbezeichnung „Umweltpsychologin/ Umweltpsychologe“ kaum gebräuchlich, wie ein Blick in aktuelle Stellenangebote zeigt. Aber solange das Anwendungsfach UP ein Schattendasein führt, ist kaum eine Änderung zu erwarten. Man kann von der Initiative, die Lenelis Kruse beschreibt, nur lernen.
Quellen:
Graumann, C.-F., & Moscovici, S. (Eds.). (1986). Changing conceptions of leadership. New York, NY: Springer. doi: 10.1007/978-1-4612-4876-7
Kaminski, G. (Hrsg.). (1976). Umweltpsychologie. Perspektiven—Probleme—Praxis. Stuttgart: Klett.
Kruse, L. (1974). Räumliche Umwelt: Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag zu einer psychologischen Umwelttheorie. Berlin: de Gruyter. [Promotion]
Kruse, L. (1980). Privatheit als Problem und Gegenstand der Psychologie. Bern: Huber. [Habilitation]
Kruse, L., & Wintermantel, M. (1986). Leadership Ms.-Qualified: I. The Gender Bias in everyday and scientific thinking. In C. F. Graumann & S. Moscovici (eds.), Changing conceptions of leadership (S. 171–197). New York, NY: Springer. doi: 10.1007/978-1-4612-4876-7_11
Lynch, K., & Rivkin, M. (1959). A walk around the block. Landscape, 8(3), 24–34.
Proshansky, H. M., Ittelson, W. H., & Rivlin, L. G. (1976). Environmental psychology: People and their physical settings. 2nd ed. New York: Holt, Rinehart and Winston.