Podiumsdiskussion „Psychische Störungen verstehen“

Noch vor Corona hatte sich im letzten Winter (2019, im Anschluß an die lebhafte fachöffentliche Disputation von Alexander Wendt mit Thomas Fuchs, Dirk Hagemann, Jan Rummel und mir) eine studentische Gruppe „Quo Vadis, Psychologie?“ konstituiert, die sehr grundsätzliche Fragen an unser Fach stellen wollte und eine Serie von Podiumsdiskussion für das Sommersemester 2020 geplant hatte – „ja, mach‘ nur einen Plan“ hat Brecht gesagt…

Nun ist mit viel Verzögerung, aber nicht mit weniger Herzblut die erste virtuelle Podiumsdiskussion zum Thema „Psychische Störungen verstehen“ zwischen Sven Barnow (dem Klinischen Psychologen) und Thomas Fuchs (dem Psychiater) unter meiner Moderation erfolgt.

Es gab ein großes Echo – in der Zoom-basierten Veranstaltung waren >200 Zuhörende angemeldet, im zusätzlichen Stream auf YouTube nochmals >100 Zuhörende. Die vielen Fragen, die im Chat an die beiden Diskutanten Sven Barnow und Thomas Fuchs gestellt wurden, konnten aus Zeitgründen nur ausschnittsweise behandelt werden (Dank an Franziska Arnold für die Organisation dieser schwierigen Auswahl!).

Worum ging es inhaltlich? Ausgangspunkt der Diskussion war die Perspektive, aus der heraus auf psychische Störungen geblickt wird. Ob man Depressionen als Denkfehler, als Störung des Neurotransmitter-Haushalts oder als Störung leiblich-zwischenleiblicher Erfahrung begreift, macht einen Unterschied. Welche wissenschaftlichen und klinischen Konsequenzen haben diese unterschiedlichen Perspektiven und Herangehensweisen in Bezug auf psychische Störungen?

In den Eingangsstatements der beiden Diskutanten kamen – so mein persönlicher Eindruck – durchaus vergleichbare Standpunkte zum Vorschein: (1) Kritik am traditionellen Verständnis psychischer Störungen im Sinne medizinisch-psychiatrischer Modelle, in denen psychische Störungen als Erkrankungen des Gehirns bezeichnet werden (Transmittertheorien, Stoffwechselerkrankungen usw.); (2) Kritik am vorschnellen „labeling“ von Norm-Abweichlern durch Diagnosen gemäß eines Diagnoseschlüssels, in dem der Einfluss der Pharma-Industrie nicht zu übersehen ist; (3) die unterschätzte Rolle von Gesellschaft bzw. Umwelt (Erich Fromm schreibt 2005 in seinem Buch „Die Kraft der Liebe“ auf S. 38: „Ob ein Mensch gesund ist oder nicht, ist in erster Linie keine individuelle Angelegenheit, sondern hängt von der Struktur seiner Gesellschaft ab“).

Aber natürlich gab es auch spezifische Punkte der beiden Fachvertreter. Barnow etwa betonte, dass leidende Patienten häufig diejenigen sind, die intensiver über ihr Leben reflektieren (der antike Philosoph Sokrates soll sinngemäß gesagt haben: „Ein Leben, über das man nicht nachdenkt, ist nicht lebenswert.“ Genau das tun Patienten manchmal mehr als andere Menschen). Außerdem sieht er im Leidensprozeß die transformative Kraft zur Erneuerung. Zitat Barnow: „Den … schmerzlichen Prozess sollten wir nicht leichtfertig pathologisieren, sondern empathisch aufgreifen und die zugrundeliegenden Kernmechanismen verstehen und die betreffende Person dazu befähigen, das eigene psychische Erleben in etwas Positives zu transformieren.“

Für die Therapie psychischer Störungen bedeutet das eine Orientierung an den Kompetenzen, die positive Veränderungen im Therapieverlauf begünstigen (u.a. Emotionsregulation, kognitive Flexibilität, Mentalisierung, Achtsamkeit). Ich würde sie als „transformative“ Kompetenzen bezeichnen, die wir ganz generell bei Menschen fördern sollten.

Thomas Fuchs verwendet lieber den Begriff der Krise und verweist auf Karl Jaspers Konzept der „Grenzsituationen„, denen jeder Mensch ausgesetzt ist. Fuchs sieht eine psychische Störung nicht als im Gehirn lokalisierbare Dysfunktion, sondern als verkörpert bzw. als „psychosomatisch“. Jede psychische Störung spielt sich im gesamten Organismus ab, sie wird auch leiblich erlebt, insbesondere aufgrund der leiblichen Resonanz der Gefühle. Stimmungen und Gefühle sind nicht bloße Folgen von Kognitionen, sondern es verhält sich eher umgekehrt: Kognitionen folgen Gefühlen, so wie sich Eisenfeilspäne in einem Magnetfeld ausrichten. Psychische Störungen betreffen die Person in ihrem verkörperten und affektiven Selbsterleben, so Fuchs.

Ausserdem sieht Fuchs psychische Krankheiten als Störungen der Interaktion von Organismus und Umwelt: Sie sind nicht „im Patienten“, sondern der Patient ist vielmehr „in der Krankheit“. Psychische Störungen sind aus dieser Sicht immer Störungen übergreifender Prozesse, sie betreffen die Person in ihrer Beziehung zu anderen. Dann kann es auch nicht überraschen, dass es für die meisten psychischen Störungen bislang keine neurobiologischen Marker oder fassbaren Korrelate gibt.

Hinsichtlich Therapie verweist Fuchs auf die große Meta-Analyse von Wampold und Imel (2015), wonach Empathie zu den effektstärksten Wirkfaktoren in Psychotherapien überhaupt gehört. Ebenso bedeutsam: Beziehungsqualität, Authentizität des Therapeuten (Carl Rogers). Ein ganz ähnlicher Befund wie in der pädagogischen Psychologie, wo die metaanalytische Hattie-Studie zeigt, dass der Lehrer oder die Lehrerin der entscheidende Wirkfaktorin der Schule ist – dessen Authentizität, sein Engagement, seine Begeisterungsfähigkeit, natürlich auch seine fachliche Kompetenz. Ganz analog zur Therapeutenrolle.

Es ließe sich noch einiges mehr anführen, aber das möge reichen als Hinweis auf ein interessantes Veranstaltungsformat: Im Streitgespräch ein „heisses“ Thema in den Blickpunkt rücken und Standpunkte abklopfen. Wobei: Eine echte Diskussion (mit Argument-Gegenargument-Struktur) hat es dann doch nicht gegeben, dafür waren die beiden Diskutanten zu nah beieinander. Aber wir wollten ja auch keinen Streit um jeden Preis – der Dialog miteinander und der respektvolle Umgang mit unterschiedlichen Standpunkten ist für mich ein hoher Wert!

Großer Dank gebührt den Studierenden Franziska Arnold, Henning Früh (hat Heidelberg inzwischen verlassen), Tilman Juche, Kim Keller und Burkhard Pahl – Sven Barnow meinte: „So macht Lehre Spass!“ Das Team „Grundsatz.Frage.Antwort“ hatte Corona-bedingt viele Rückschläge zu überwinden, inhaltliche Fragen zu klären, technische Probleme zu lösen – aber sie haben sich nicht von Ihrer Idee abbringen lassen und dürfen sich jetzt über das Ergebnis ihrer Hartnäckigkeit freuen.

Natürlich gilt der Dank auch Dr. Alexander Wendt und der „Arbeitsgemeinschaft Philosophie und Psychologie“ (hier der Link: https://www.phi-psy.de/), die das Vorhaben der Heidelberger Studierenden aktiv befördert hat, um den Austausch zwischen Philosophie und Psychologie zu befördern.

Es geht weiter: am Freitag 15. Januar 18:30 ist der nächste Termin – das Digitale Kolloquium wird mit einem Vortrag von Thomas Kessel (Uni Wuppertal) fortgesetzt, weiere Podiumsdiskussionen mit Vertreterinnen und Vertretern des Psychologischen Instituts sind in Vorbereitung.

Lese-Empfehlungen: Barnow, S. (2020). Konzepte und Modelle von Emotion und Emotionsregulation. In S. Barnow (Hrsg.), Handbuch Emotionsregulation (S. 3–18). Heidelberg: Springer. doi: 10.1007/978-3-662-60280-5_1 – Fuchs, T. (2020). Verkörperte Emotionen und ihre Regulation. In S. Barnow (Hrsg.), Handbuch Emotionsregulation (S. 19–28). Heidelberg: Springer. Abgerufen von https://doi.org/10.1007/978-3-662-60280-5_2 – Hofmann, S. G., & Hayes, S. C. (2019). The future of intervention science: Process-based therapy. Clinical Psychological Science, 7(1), 37–50. doi: 10.1177/2167702618772296 – Wampold, B. E., & Imel, Z. E. (2015). The great psychotherapy debate: The evidence for what makes psychotherapy work (Second edition). New York: Routledge. – mein Blog-Beitrag zur Neu-Erscheinung von Thomas Fuchs „Verteidigung des Menschen.

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