Bauchgefühl im DAI

Am Sonntag, den 8.12.19 war ich zu einer Podiumsdiskussion ins DAI geladen. Im Rahmen des abwechslungsreichen Programms des „International Science Festivals“ (besser bekannt unter dem Motto „Geist Heidelberg„) ging es unter dem Titel „Prof. Dr. Bauchgefühl – Wissenschaft zwischen Intelligenz und Intuition“ um die Frage, welche Rolle die Intuition in der Wissenschaft spielt. Angekündigt war die Veranstaltung mit Prof. Dr. Dr. Rafaela Hillerbrand, Technikethik und Wissenschaftsphilosophie, Karlsruher Institut für Technologie; Prof. Dr. Matthias Weidemüller, Physikalisches Institut, Universität Heidelberg; und mit mir, Psychologisches Institut, Universität Heidelberg. Für die Moderation war Joachim Müller-Jung, Ressortleiter Natur und Wissenschaft, FAZ, vorgesehen.

Um 17 Uhr waren zwar sehr viele Zuhörende da (der Saal im 1. Stock des DAI war voll), aber Frau Hillerbrand war erkrankt und auch der Moderator hatte es nicht rechtzeitig nach Heidelberg geschafft. Was tun? Der Direktor des DAI, Jakob Köllhofer, zögerte nicht lange und übernahm selbst die Moderation zwischen dem Quantenphysiker Weidemüller und dem Denkpsychologen Funke, die er mit seinen Impulsen zu immer neuen Stellungnahmen herausforderte.

Was ist für mich Bauchgefühl? Bauchgefühl ist ein schnelles, intuitives Urteil. Wir sprechen in der Psychologie – so etwa der amerikanische Psychologe Daniel Kahneman – manchmal von zwei qualitativ verschiedenen Systemen, mit denen wir als Menschen operieren: einem evolutionär älteren System 1, das schnelle (wenngleich nicht immer korrekte) Entscheidungen aus dem Bauch heraus (aus dem Rückenmark) auf der Basis von Lebenserfahrung und angeborenen Tendenzen (Bsp. Spinnenangst) trifft und verbal schlecht begründbar ist, und ein jüngeres System 2, das in der Großhirnrinde und im präfrontalen Kortex angesiedelt ist und in langsamer Geschwindigkeit argumentativ abwägend rationale Urteile fällt. Der Psychologe Gerd Gigerenzer hat in seinem 2007 erschienenen Buch „Bauchentscheidungen“ mehr dazu geschrieben.

Sigmund Freud hat diese zwei Systeme vor über 100 Jahren in ähnlicher Weise das Unbewusste bzw. Bewusste genannt. Blaise Pascal, ein französischer Philosoph aus dem 17. Jahrhundert (1623-1662), hat das so formuliert: „Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt.“ In der experimentellen Psychologie der Neuzeit tauchen diese beiden Systeme unter wechselnden Namen auf. So sprechen manche vom impliziten und expliziten Wissen oder von impulsiver und reflexiver Verarbeitung. Übrigens hat schon Platon in seinem Gleichnis vom Wagenlenker davon gesprochen, dass zwei Pferde (ein triebhaft begehrendes – epithymetikon – und ein mutig wollendes – thymoeides) vom vernünftigen Wagenlenker (logistikon) auf die richtige Spur gesetzt werden müssen.

Der evolutionäre Erfolg des Homo Sapiens hängt sicher mit der Entwicklung des langsamen, reflexiven, expliziten Systems 2 zusammen – ein Erfolg der Rationalität, mit dessen Schattenseiten wir immer wieder konfrontiert werden. Bauchgefühl ist für mich daher eine zusätzliche und willkommene Ergänzung meiner Rationalität.

Welche Rolle spielt Bauchgefühl in meiner Forschung und bei meiner Arbeit? Universitäten sollten Orte maximaler Rationalität sein – dennoch: Ich kann mir Forschung ohne Bauchgefühl kaum vorstellen! Ich sehe mich nicht als Wissenschaftsroboter, der nüchtern und komplett rational seine Fragestellungen abarbeitet. Ich bin ein Mensch, dessen Herzblut für die Wissenschaft fließt (die Betonung liegt auf Herz). So eine Leidenschaft mag manchem irrational vorkommen – aber sie ist unverzichtbarer Antrieb meines Handelns, das natürlich strengen Rationalitätsprinzipien folgt.

Universitäten, so hat Karl Jaspers einmal gesagt, sollten „Orte unbedingter Wahrheitssuche“ sein – das Problem dieser an sich wunderbaren Zielvorstellung über das Wesen einer Universität besteht im Wahrheitsbegriff. Eine naive Wahrheitskonzeption sagt: Wahrheit ist Überstimmung zwischen den Dingen und dem, was ich über sie sage. Naiv ist diese Konzeption deswegen, weil wir die Dinge immer perspektivisch, d.h. aus unserem individuellen Blickwinkel sehen. Deswegen muss Wahrheit immer auch als soziale Dimension mitgedacht werden – in der Wissenschaft nennen wir dieses Prinzip „intersubjektive Übereinstimmung“. Aber selbst dabei kann es zu Fehlern kommen (Stichwort „group think“).

Was hat das mit Bauchgefühl zu tun? Wissenschaftliche Forschung darf sich im Kontext der Entdeckung, also der Suche nach möglichen Erklärungen, sehr wohl auf ein Bauchgefühl stützen. Im Kontext der Überprüfung dagegen müssen wir in den Modus des strengen Zweifelns übergehen, da darf kein Bauchgefühl mehr im Spiel sein. „Context of discovery“ und „context of justification“ sind übrigens Konzepte, die der Wiener Philosoph Hans Reichenbach 1938 geprägt hat zur Beschreibung zweier fundamental unterschiedlicher Phasen im Forschungsprozeß.

In meiner eigenen Forschung zum Umgang von Menschen mit komplexen, intransparenten, dynamischen Systemen spielt die „Intuition der Experten“ eine wichtige Rolle. Expertise heisst Erfahrungswissen, auf das sich die Intuition stützen kann. Das ist ganz wichtig: erfahrungsgetränkte Intuition ist viel wertvoller als naive (blinde) Intuition. Ein Beispiel: Beim Arztbesuch lassen Sie ein EKG machen. Ihnen wird von unspezifischen EKG-Auffälligkeiten und dem Verdacht auf einen Herzfehler berichtet – wenn das von einem erfahrenen Kardiologen kommt, kann man das vage Urteil eher annehmen als wenn ein Medizinstudent einen derartigen Verdacht äußert.

Herausgekommen ist eine lebendige Diskussion auf der Bühne, später auch noch mit dem Publikum, in dessen Quintessenz die Anerkenntnis stand, dass die beiden unterschiedlichen Herangehensweisen an Entscheidungen und an Erkenntnisgewinn nebeneinander Bestand haben und beide ihre Stärken (wie auch Schwächen) haben. Ein salomonisches Urteil, wie Jakob Köllhofer in seinem Schlußwort bemerkte. Also: ein interessanter Spätnachmittag mit einigen neuen Einsichten!

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