In der aktuellen Ausgabe 48/2019 titelt das Wochenmagazin „ZEIT“ in einem Beitrag von Manuel Hartung und Katharina Menne: „Politische Wissenschaftler: Zeigt Euch!“ und bezieht sich dabei auf eine Rede, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Hamburg am 18.11.19 vor der Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz gehalten hat. Jetzt habe ich sie gelesen (hier zu finden) und bin beeindruckt von seinen klaren Worten, die er den Rektoren und Präsidenten der bundesdeutschen Hochschulen mit auf den Weg gegeben hat. Hier ein paar markante Textstellen:
… Wer eine Universität betritt, sei es als Lehrender oder als Studierender, betritt also nicht die stille, erdabgewandte Seite des Mondes. Sondern der betritt einen Raum der geistigen, auch politischen Auseinandersetzung. Natürlich werden in diesem Raum die aktuellen Konflikte, die in einer Gesellschaft virulent sind, nicht sistiert [=ausgeblendet, J.F.], sondern oft besonders deutlich artikuliert und ausgetragen.
… Die Welt braucht nicht nur gut ausgebildete Könner ihres Fachs, nicht nur fleißige Sammler von Creditpoints, sondern vor allem kritische und selbstkritische, politisch wache Menschen. Selbstbewusste akademische Bürgerinnen und Bürger, die selbstbewusste Staatsbürgerinnen und Staatsbürger werden. Die es gelernt haben, strittige Themen mit offenem Visier zu diskutieren – und Unterschiede auszuhalten, ohne sich in Selbstverkapselung zu verkriechen oder in rücksichtsloser Aggressivität nur die eigene Meinung gelten zu lassen.
… Manche verwechseln das Recht auf Meinungsfreiheit mit dem Anspruch darauf, dass auch alle anderen ihre Meinung teilen. Oder mit dem Recht, jede noch so absurde Behauptung müsse ernst genommen werden. Wer sich aber öffentlich äußert, muss natürlich mit der Überprüfung seiner Aussage rechnen und mit Widerspruch. Dem ‚Das wird man ja wohl noch sagen dürfen‘ folgt eben gern ein ‚Da wird man ja wohl auch widersprechen dürfen‘ – und das nenne ich nicht Mainstream-Tugendterror, sondern Demokratie! … Was wir wieder neu brauchen, ist Streitkultur. Streitkultur billigt anderen zunächst lautere Absichten zu. Streitkultur erspart anderen keinen Widerspruch, aber sich selber auch keine Selbstkritik. Streitkultur fasst nicht mit Samthandschuhen an, aber lässt auch nicht die verbale eiserne Faust sprechen. Streitkultur öffnet nicht nur den eigenen Mund, sondern auch die eigenen Ohren. Streitkultur braucht den Wunsch, zu überzeugen und die Offenheit, sich gegebenenfalls auch selbst überzeugen zu lassen. Streitkultur braucht also beides: Mut und Gelassenheit.
… Die Universität soll kein Ort der geistigen Schonung sein, sondern ein Ort der Freiheit aller zum Reden und zum Denken. Und die Exzellenz einer Hochschule erweist sich – neben aller Internationalisierung, Digitalisierung, Optimierung – vor allem daran, ob hier gepflegt und eingeübt wird, was unsere Demokratie so dringend braucht: den erwachsenen Streit, die argumentative Kontroverse, den zivilisierten Disput.
Tolle Forderungen, denen ich mich uneingeschränkt anschließen kann! Gut gefallen hat mir, dass unser Bundespräsident Universitäten als prädestinierte Orte zur Wahrheitssuche beschreibt! Karl Jaspers, dessen Andenken wir in Heidelberg sowohl mit einer nach ihm benannten Karl-Jaspers-Professur wie auch mit einem ebensolchen jährlich vergebenen Karl-Jaspers-Preis hochhalten, beginnt sein Buch „Die Idee der Universität“ (1923/1946/1961) mit den starken Sätzen: „Die Universität hat die Aufgabe, die Wahrheit in der Gemeinschaft von Forschern und Studenten zu suchen. Sie ist die Stätte, an der das hellste Bewußtsein des Zeitalters sich entfalten soll. Dort dürfen als Lehrer und Studenten Menschen zusammenkommen, die den Beruf haben, uneingeschränkt Wahrheit als solche, ihrer selbst wegen, zu ergreifen. Daß irgendwo bedingungslose Wahrheitsforschung stattfinde, ist ein Anspruch des Menschen als Menschen.“ (Gesamtausgabe, Band I/21, S. 263).
In Zeiten der Exzellenz denke ich gelegentlich, dass die Suche nach Finanzmitteln (man denke an das Verhältnis von Landeszuschüssen und Mitteln Dritter, siehe hier), die Suche nach medialer Aufmerksamkeit (das professionell betriebene Marketing von Universitäten), das Streben nach Ruhm, Geld und Ehre (z.B. beim Bluttest-Skandal) fast wichtiger geworden sind als die Suche nach Wahrheit. Wenn das zuträfe, wäre eine Rückbesinnung auf die Idee der Universität als primärer Ort für Wahrheitssuchende sicher hilfreich. Dass es dazu des gepflegten Streits mit Argumenten Pro und Contra sowie einer entsprechenden Streitkultur bedarf, steht für mich außer Frage. Und die Kraft von Argumenten hängt nicht vom Status oder der Machtposition des Diskussionspartners ab – Jürgen Habermas, der von 1961 bis 1964 in Heidelberg wirkte, spricht vom „herrschaftsfreien Dialog„. Dass nicht von oben herab entschieden wird, sondern auf Augenhöhe unter gleichberechtigten Partner, ist dafür ein Kennzeichen. Fair ausgetragene Kontroversen bringen uns am Ende weiter als mit Macht durchgesetzte Meinungen.
Brauchen wir „politischere Wissenschaftler“, wie im eingangs genannten „ZEIT“-Artikel gefordert? Ich denke ja! Wissenschaft hat heute einen Komplexitätsgrad erreicht, in der selbst ich als Experte beim „peer review“ (also der fachlichen Kontrolle) von Artikeln aus meinem Fachgebiet an Grenzen der Nachvollziehbarkeit stoße. Interessierte Laien haben kaum noch Möglichkeiten zur kritischen Rezeption. Daneben gibt es eine Verantwortung von Wissenschaftlern nicht nur in bezug auf ihre Wahl der Forschungsthemen und die Einhaltung ethischer Prinzipien bei der Wahl von Untersuchungsmethoden, sondern auch eine Verantwortung für die Verwendung ihrer Erkenntnisse. Dass Wissenschaftler von der Gesellschaft freigestellt werden zur Forschung und zur Lehre, ist mit der Erwartung verbunden, dass diese Forschung nicht nur die persönliche Neugier befriedigen soll (und nebenbei zur Förderung der persönlichen Karriere beiträgt), sondern zum Wohl der Gemeinschaft dient. Die enorme Freiheit des Wissenschaftlers ist an eine nachvollziehbare Verantwortung gegenüber den Mitmenschen gebunden.
Gefreut habe ich mich daher über die „Jenaer Erklärung“ der Deutschen Zoologischen Gesellschaft zum nicht mehr akzeptablen Begriff der Rasse, kurz gefasst: „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung.“ Die ausführliche Erläuterung, warum der Rasse-Begriff nicht tauglich ist, findet sich hier. Auch andere Disziplinen und andere Vereinigungen mischen sich ein: Die „Union of Concerned Scientists“ (=Vereinigung besorgter Wissenschaftler) ist in den USA (und weltweit) seit 1969 in Sachen Abrüstung und seit 1992 in Sachen Klimaschutz aktiv, die Scientists for Future sind im Zuge der Fridays for Future-Bewegung entstanden. Hier zeigt sich eine große Bereitschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, politisch zu handeln und nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft zu verharren. Das sind gute Zeichen, wie ich finde! Wir brauchen mehr davon!