Was ist eigentlich Kreativität? Psychologen nennen eine Idee kreativ, wenn sie einen neuen und nützlichen Lösungsvorschlag für ein wie auch immer geartetes Problem enthält. Die Entdeckung der Solarzelle löst das Problem regenerativer Energie, eine Büroklammer am defekten Reißverschluss einer Hose löst ein anderes Problem. Kreative Ideen vom Typ Solarzelle stellen die „große“ Kreativität dar, die gesellschaftlich nützliche Produkte hervorbringt. Die Büroklammer ist ein Beispiel für die „kleine“ (alltägliche) Kreativität dar, die eine individuell nützliche Lösung eines Problems liefert.
Der Begriff Kreativität ist in aller Munde, Kreativität ist eine gute Sache, wie es scheint. Also steht die naheliegende Frage im Raum: Kann man Kreativität lernen? Die Antwort der Wissenschaft darauf ist wie so oft ein „Ja“ und ein „Nein“. Diesen scheinbaren Widerspruch will ich kurz erläutern.
Früher dachte man, Kreativität wäre nur wenigen Genies vorbehalten. Seit Beginn der 1950er Jahre ist – maßgeblich durch den amerikanischen Psychologen Joy Guilford beeinflusst – ein Umdenken eingeleitet worden, das anstelle eines Genie-Konzepts die Annahme setzt, dass im Grunde genommen jeder Mensch zu horizont-erweiterndem, divergenten Denken fähig ist. Natürlich gibt es unterschiedliche Ausmaße dieses kreativen Denkens bei unterschiedlichen Menschen, aber prinzipiell ist jeder zu kreativen Ideen fähig.
Ein Grund für das rasante Interesse am Thema „Kreativität“ in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts war unter anderem der „Sputnik“-Schock: Dass die Russen vor den Amerikanern den Weltraum zu erobern drohten, setzte auf amerikanischer Seite erhebliche Anstrengungen auf der Suche nach kreativen Köpfen in Gang. Mit dem Vorschul-Fernsehprogramm „Sesamstrasse“ versuchten die Amerikaner, flächendeckend bereits bei Kindern im Vorschulalter durch mehr Bildung mehr Kreativität zu erzeugen.
Die Folge dieser „kreativen Wende“ waren Kreativitäts-Workshops und Ideenbörsen, Zukunftswerkstätten und Utopie-Gruppen, alle Welt will Kreativität fördern. Lösen wir also einen Gehirnsturm – ein „brain storming“ – aus, und gehen wir mit einem genialen Einfall nach Hause. Was wird nicht noch alles getan, um selbst den letzten Gedanken aus dem Gehirn zu kitzeln. Zugleich wird immer mehr evaluiert, kontrolliert, reglementiert und noch der letzte Rest an freier Zeit verplant. Zum anarchischen Wesen der Kreativität gehört es aber nun einmal, dass sie sich weder planen noch verordnen lässt. Allein von Disziplin wird die begehrte Muse auch nicht zum ersehnten Kuss verführt. Förderlich für die Kreativität hingegen sind mehr Zeit, mehr Vertrauen, weniger Druck. Dann wird man am Ende sehen können, ob sich ein interessanter Gedanke, etwas Neues entwickelt hat.
Deswegen ein „Nein“ auf die Frage, ob man Kreativität lernen kann. Die Teilnahme an einem Kreativitätskurs macht noch niemanden zu einer kreativen Person, so wie ein Schwimmkurs jemandem das Schwimmen lehrt. Wer sich vornimmt, jeden Freitagnachmittag ein paar kreative Stunden zu verbringen, hat keine Sicherheit, dass am Abend wirklich neue Ideen auf dem Tisch liegen. Kreativität lässt sich nicht verordnen, ein guter Einfall ist nicht garantiert.
Ein „Ja“ gibt es auf die im Titel gestellte Frage, weil man selbst durch seine Handlungen einiges dazu beitragen kann, sein kreatives Potential zu erhöhen. Vor allem die Offenheit für neue Erfahrungen ist dabei ein starkes Element. Wer in Routinen und Gewohnheiten erstarrt, wird seine Kreativität zum Verschwinden bringen. Deswegen ist die kindliche Kreativität, die sich im Phantasiespiel zeigt, ein natürlicher Anfangspunkt, der jedoch schnell verloren gehen kann, wenn diese Freiheiten zu stark eingeengt werden. Eigentlich ist Träumen und Phantasieren auch bei älteren Menschen sinnvoll. Kreativität muss mit höherem Lebensalter nicht verloren gehen. Ein Blick in die Kunstwelt zeigt, dass Alterswerke (etwa bei Pablo Picasso) ihre eigene Faszination haben. Auch bei Komponisten ist häufig nicht das Erstlingswerk, sondern das Spätwerk dasjenige, was uns beeindruckt.
Blickt man zurück in die Geschichte, zeigt sich, dass wichtige Innovationen nicht das Ergebnis von kostspieligen Anreiz-Programmen und ausgeklügelten Kreativitätsübungen sind. Häufig waren sie die Resultate des Grübelns intelligenter Eigenbrödler, die ihre Ideen mit teils milder, teils heftiger Besessenheit verfolgten und sich dabei meist nur wenig um die Meinung ihrer Zeitgenossen scherten. Die kreative Idee, die urplötzlich über ihren Entdecker hereinbricht und Außenstehenden wie ein göttlicher Geistesblitz erscheinen mag, stellt sich bei näherer Betrachtung oft als das Konzentrat langwieriger Vorarbeiten heraus, ganz im Sinne des Diktums von Thomas Edison: „Genius is one percent inspiration and 99 percent perspiration“.
Leonardo da Vinci, dessen 500. Todestag kürzlich begangen wurde, war eine außergewöhnlich kreative Person. Seine Neugier auf alle möglichen Erscheinungen der Natur – sei es der Vogelflug oder der menschliche Körper – hat ihn zu vielen Erfindungen inspiriert. Funktioniert haben davon zu seinen Lebzeiten nur wenige. Ihm fehlte die Ausdauer, mit der etwa Thomas Edison jahrelang an der Legierung seines Glühfadens für das elektrische Licht gebastelt hat, bis er schließlich ein haltbares Metall fand. Kreative Personen sind sehr unterschiedlich aufgestellt, es gibt kein Erfolgsrezept.
Die Frage, ob Roboter, ob Maschinen mit künstlicher Intelligenz Kreativität zeigen, würde von Vertretern der KI vermutlich bejaht. Tatsächlich malen Roboter Klecksbilder im Stil des amerikanischen Künstlers Jackson Pollock und intelligente Softwareprogramme komponieren Musik im Stil der Beatles. Aber diese Produktionen setzen natürlich das Werk von Künstlern oder Musikern bereits voraus, Einen eigenen Stil oder ein eigenes Genre hat die Künstliche Intelligenz noch nicht hervorgebracht. Es bleibt eine „mechanische“ Kreativität.
Gibt es Schattenseiten der Kreativität? Natürlich gibt es eine „dark side of creativity“, eine dunkle Seite: Überall da nämlich, wo Kreativität mit schlechten Wertvorstellungen zusammenkommt. Die kreative Gestaltung von betrügerischen Unternehmungen, die Kreativität im Erfinden und Verfeinern von Foltermethoden: all das sind Beispiele dafür, dass wir Kreativität nur solange gut finden, wie sie zum Wohl des Einzelnen oder der Gemeinschaft eingesetzt wird. Aber im Grunde ist das kein Problem der Kreativität, sondern eines, das mit den Wertvorstellungen der handelnden Personen zu tun hat.
Wie so oft, haben wir es auch bei der Kreativität mit der Wechselwirkung einer Person und ihrer Umwelt zu tun: Kreative Milieus sind leicht zu spüren, wenn man ihnen begegnet – sie sind jedoch nur schwer zu beschreiben und noch schwerer herzustellen. Allenfalls kann man Gelegenheit zur Kreativität schaffen; dabei hilfreich sind Personen mit milden Formen der Besessenheit, viel Zeit und Muße.
So sehr wir uns alle viele kreative Milieus in kreativ ausgerichteten Organisationen wie zum Beispiel den Universitäten wünschen, am Ende ist es immer nur das Individuum, das mit seinen neuen Ideen die Welt voranbringt. Auch wenn der 2001 erschienene iPod (ein tragbares Gerät zum Musikabspielen) mit dem Firmennamen von Apple verbunden wird: Die treibende Kraft hinter dieser Entwicklung war die Person Steve Jobs, die sich über Zweifler hinwegsetzte.
Kreative Personen brauchen Freiräume und Vertrauen, sodass sie ihre Kreativität entwickeln und Bereitschaft zum Risiko zeigen können. „Kreativität lernen“: Das bedeutet für die kreative Person auch, Mut zur eigenen Kreativität zu zeigen! Für dessen Umwelt bedeutet es, nicht sofort mit Kritik und Zweifel zu kommen, sondern neuen und ungewöhnlichen Ideen eine Chance zu geben.
Die Kreativität ist ein zartes Pflänzchen. Pflegt man es nicht stetig und geduldig, kommt nur ein dürres Gewächs heraus. Ein guter Gärtner hegt seine Pflanzen und liebt sie und weiß doch, dass schöne Blüten nicht zu erzwingen sind. Wenn aber das Klima stimmt, gibt es Grund zur Hoffnung.
(Dieser Beitrag erschien in der Pfingstausgabe der Rhein-Neckar-Zeitung am 8.6.2019)