Theoretische Psychologie – quo vadis?

Es ist einmal an der Zeit, von den Sorgen der theoretischen Psychologie zu berichten – neben dem (inzwischen aufgelösten) Institut für Theoretische Psychologie von Dietrich Dörner in Bamberg ist mein eigener Lehrstuhl einer der wenigen (wenn nicht gar der einzige noch im aktiven Dienst verbliebene!) mit der Denomination „Theoretische Psychologie“ (daher kommt das T in unserem Kürzel ATP).

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ATP Logo (by Bernd Reuschenbach)

Am Bamberger Institut für Theoretische Psychologie – im Jahr 2000 eingerichtet – wurde bis zur Emeritierung von Dietrich Dörner im Jahre 2006 vor allem an der kognitiven Modellierung (PSI) psychischer Prozesse gearbeitet. Wie einer meiner früheren Blog-Einträge beschreibt, war das Thema dort nach wie vor in Bearbeitung, aber auf deutlich schmalerer Basis als vorher. In Heidelberg ist eines unserer Themen die Verbindung von Denken und Handeln im Lichte einer Integration von Kognition und Emotion – „mind in action“ also. Aber auch kognitive Modellierung steht auf unserer Agenda 🙂

Wofür brauchen wir überhaupt theoretische Psychologie? Zur Illustration sei ein Blick in unsere frühere Vorbild-Disziplin Physik geworfen – die Physik war für Wilhelm Wundt nicht nur wegen des experimentellen Ansatzes und der Psycho-Physik interessant, sondern auch als Analogiequelle (die Suche nach den „Atomen“ des Psychischen). Das Theoretisieren ist das Herz aller Wissenschaften, selbst der empirischen – was wäre Empirie ohne Theorie? Natürlich sind wir heute über die Vorbild-Wissenschaft Physik hinausgewachsen – unser Forschungsgegenstand „Mensch“ ist eben nicht totes Naturobjekt, sondern ein lebendiges, historisch und sozial eingebettetes Lebewesen. Da ist das Vorbild der Biologie (insbesondere in deren systemisch orientierten Bereichen) vielleicht doch etwas passender.

Dass in Heidelberg die Theoretische Psychologie diesen besonderen Status hat, ist zu großen Teilen meinem Vorgänger Norbert Groeben zu verdanken. Seine methodologischen Reflexionen und sein wissenschaftstheoretisches Interesse haben diesen Ausschnitt unseres Faches stark gemacht. Leider ist dieses Interesse bundesweit nicht allzu stark verbreitet, ebenso wie die Psychologie-Geschichte auch eher ein Gebiet für Außenseiter sein dürfte.

Apropos Physik: Nicht nur, dass der Nobelpreis für Physik 2008 an drei theoretische Physiker ging –  auch die Ausstattung der Theoretischen Physik ist derjenigen der Theoretischen Psychologie leicht überlegen: An der Uni Heidelberg sind z.B. am Institut für Theoretische Physik allein 15 ordentliche Professoren, 9 Gruppenleiter und 5 apl-Professoren im Dienst der Theorie tätig – das ist mehr Personal, als das gesamte Psychologische Institut aufzubieten hat. Wo bleibt ein Institut für Theoretische Psychologie?

Die gelegentlich anzutreffende Geringschätzung der Theoretischen Psychologie schlägt sich auch in den Studienordnungen nieder: Eine „Einführung in die Erkenntnistheorie„, wie wir sie in Heidelberg unseren BSc-Studierenden bieten, ist bundesweit inzwischen zu einer Rarität geworden. Darauf sind wir hier allerdings  stolz und werden für das Weiterleben der Theoretischen Psychologie unbeirrt eintreten. Nichts sei so praktisch wie eine gute Theorie, soll Kurt Lewin gesagt haben. Stimmt! Also halten wir das Banner der Theorie aufrecht!

Übrigens hat es vor einiger Zeit Vorschläge gegeben, eine eigene Fachgruppe „Theoretische Psychologie“ innerhalb der DGPs zu gründen. Dazu ist es dann doch nicht gekommen. Der ersatzweise gemachte Vorschlag, dieses Teilgebiet der Fachgruppe „Geschichte der Psychologie“ anzugliedern, wurde aus mir nachvollziehbaren Gründen abgelehnt.

Dass wir jetzt in einer Reproduzierbarkeitskrise stecken („replication crisis„), ist nicht nur fragwürdigen Forschungspraktiken zuzuschreiben (wie z.B. p-hacking oder HARKing), sondern hat auch mit schwachen Theorien zu tun, die uneindeutige Vorhersagen machen oder die an sehr spezielle Randbedingungen geknüpft sind. Wenn wir heute nach Auswegen aus der Krise suchen, muss man natürlich über die notwendigen Voraussetzungen guter Forschung reden, die methodischen Aspekte (wie z.B. manipulation checks, die die Wirksamkeit der Treatment-Variable eines Experiments überprüfen) aber sind eigentlich eher Sekundärtugenden. Primär sollte das Augenmerk auf gute Theoriebildung und daraus ableitbaren, strengen Hypothesen gelegt werden. Dazu ist ein Phänomenbezug unabdingbar. Vor das Theoretisieren ist eine genaue Analyse des fraglichen Phänomens erforderlich.

Wie lernt man Theoriebildung? Man muss sich gute Vorbilder anschauen. Einen Kurs „how to setup a good theory“ gibt es nicht, wohl aber eigene Fingerübungen im „Empirisch-experimentellen Praktikum“, in der eigenen Bachelor- oder Masterarbeit. Forschungsorientierte Lehre sollte den Theoriebezug zum jeweiligen Gegenstand herausarbeiten, die Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen Fragen (also Methodologie, nicht nur Methodik) ist unabdingbar.

Eine Literaturempfehlung aus dem eigenen Haus: Fiedler, Klaus (2018). The creative cycle and the growth of psychological science. Perspectives on Psychological Science, 19(6), 433–438. https://doi.org/10.1177/1745691617745651

PS: Dass auch in der Theoretischen Physik nicht alles Gold ist, was glänzt, zeigt der Skandal um den Autor Mohamed El Naschie, der vor einigen Jahren als Lachnummer entlarvt wurde (siehe hier): Jahrelang hat er als Autor und Herausgeber seine Kollegen und den Elsevier-Verlag genarrt – dass die von ihm herausgegebene Zeitschrift für ein Jahresabo von 4000 Euro zu abonnieren war und einen Impact-Faktor >3 erzielte, macht deutlich, dass formale Kriterien zur Beurteilung wissenschaftlichen Erfolgs irren können 🙂

Wissenschaftlichen Fortschritt am Impact ablesen zu wollen kommt mir sehr bürokratisch vor – der Geist macht seine Sprünge, wo er will und wie er will. Da ist der Impact-Factor eher das Maß des Buchhalters, über das der Geist schmunzelt… Das Lachen vergeht mir allerdings, wenn ich sehe, wie ernst derartige Indikatoren von Entscheidungsträgern genommen werden.

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