Seit heute läuft eine Kampagne zur Aufklärung über „Fake Science“, die von von einem investigativen Reporterpool in mehrmonatiger Vorlaufzeit und mit internationaler Beteiligung erarbeitet wurde (hier findet man auf den Seiten des NDR das Dossier „Fake Science – die Lügenmacher“). Worum geht es bei Fake Science?
Fake Science (auf deutsch: „Wissenschaftsimitation“, Pseudo-Wissenschaft) sieht aus wie Wissenschaft, ist aber keine Wissenschaft! Wie kann das sein? Mit dem weltweiten Anwachsen von Wissenschaft hat sich nicht nur die Zahl kluger Köpfe vermehrt, die sich um „unbedingte Wahrheitssuche“ bemühen (so Karl Jaspers 1946 in seinem Buch „Die Idee der Universität„), sondern auch die Zahl schwarzer Schafe, die in dieser Herde mitlaufen, um ihre persönlichen Interessen (Karriere, Ruhm, etc.) zu verfolgen und denen unbedingte Wahrheitssuche nicht so wichtig ist.
Dass wir in den letzten Jahren einen Ansehensverlust von Wissenschaft zu verzeichnen haben, macht der Umgang des amerikanischen Präsidenten Trump mit seinen Wissenschaftsinstitutionen deutlich, wenn er etwa an die Spitze der amerikanischen Umweltbehörde EPA einen dezidierten Leugner des anthropogenen (dh. menschengemachten) Klimawandels setzt, den Etat für entsprechende Forschungen drastisch kürzt und sich über Fakten hemmungslos hinwegsetzt.
Auch aus Ungarn höre ich schlechte Nachrichten über den dortigen Regierungschef Viktor Orban, der die Ausgaben für Universitäten kürzt, der nicht-staatlichen angesehenen internationalen „Central European University“ in Budapest die Lizenz entziehen möchte (siehe hier) und in den Intellektuellen Feinde des Regimes sieht, die ihm und seiner Partei die Stimme verweigern. Die Leitungen der ungarischen Universitäten werden in regierungstreue Hände gelegt – ein Vorgehen, das in der Türkei für viele Wissenschaftler, die nicht auf der politischen Linie Erdogans mitschwimmen mochten, das Aus (oder gar einen Gefängnisaufenthalt) bedeutet hat (siehe z.B. hier). Wie dankbar können wir den Vätern unseres BRD-Grundgesetzes sein, dass sie in Artikel 5 GG der Freiheit von Wissenschaft und Kunst einen ganz hohen Rang zugesprochen haben!
Was ist ist nun mit Fake Science ganz konkret gemeint? Das Reporterteam hat mehrere Facetten dieser Pseudo-Wissenschaft aufgezeigt. Auf drei Erscheinungsformen möchte ich genauer eingehen:
- Raubverlage (predatory publisher): „Mehr als 5000 Wissenschaftler deutscher Hochschulen haben Forschungsarbeiten bei scheinwissenschaftlichen Verlagen veröffentlicht.“ Weltweit sind es wohl mehr als 400.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die diesen Weg einschlagen. Uff! Warum ist das schlimm und warum tun Wissenschaftler das? Das moderne Wissenschaftssystem folgt in weiten Teilen der Devise „publish or perish“ (veröffentliche oder stirb) – gemeint ist damit, dass der Erfolg eines Wissenschaftlers am Publikationsoutput gemessen wird. Wer nicht publiziert, hat schlechte Karriereaussichten, erhält keine Drittmittel (die zur Finanzierung größerer Vorhaben notwendig sind) und sammelt keine Reputation. Nun bieten sich kommerzielle Verlage an, hier Abhilfe zu schaffen: gegen entsprechende Zahlung werden Artikel einer angeblichen Qualitätskontrolle unterzogen (einem Pseudo-„peer review„) und schnell veröffentlicht. Damit kann jemand seine Publikationsliste (den Nachweis der wissenschaftlichen Arbeit) verlängern und erhöht damit (vermeintlich) seine Chancen im Wissenschaftssytem. Wenn er oder sie Glück hat, fällt das niemandem auf, dass hier keine echte Qualitätskontrolle durchgeführt wurde.
- Pseudo-Konferenzen: Wissenschaftler tauschen sich regelmäßig auf Konferenzen zu speziellen Themen aus und halten dort Vorträge. Zu einer Konferenz muss man sich anmelden, einen Beitrag einreichen, der dann von Kollegen begutachtet wird und bei entsprechender Qualität akzeptiert wird. Besonders interessante Themen werden in „Key-Notes“ (Hauptvorträgen) herausgehoben behandelt – es ist eine besondere Ehre, als „Keynote“-Vortragender eingelden zu werden. Nun machen sich findige Unternehmer auf und bieten Schein-Konferenzen an, wo man gegen entsprechende Zahlungen Beiträge aller Art unterbringen kann (mit vorgetäuschter Qualitätsprüfung). Diese Pseudo-Konferenzbeiträge werden später in Pseudo-Konferenzberichten veröffentlicht, mit denen manche (schlechten) Institute bei entsprechender Zahlung sogar Personen kumulativ promovieren oder erhalten „fake degrees“ (Pseudo-Doktortitel).
- Datenfälschung: Diese Vorgänge sind immer wieder zu verzeichnen. In den letzten Jahren ist der Fall des niederländischen Psychologen Diederik Stapel für meine eigene Disziplin eine bittere Lektion gewesen (nicht die erste und nicht die letzte, aber eine aktuelle…; hier mein Blog-Beitrag „Faking Science: Die Geschichte von Diederik Stapel“ dazu). Diederik Stapel hat seine (bis zur Aufdeckung) äußerst erfolgreiche Karriere mit immer dreisteren Datenfälschungen erreicht: Waren es anfangs kleine Korrekturen an den Rohdaten, um seine Ergebnisse ein wenig „prägnanter“ zu machen, hat er nach einiger Zeit die Dreistigkeit besessen, komplette Datensätze nicht in der Realität zu sammeln, sondern sie auf seinem häuslichen Computer wunschgemäss selbst herzustellen (zu „faken“).
Warum ist Pseudo-Wissenschaft ein Desaster für die Wissenschaft insgesamt? Vor allem wegen der Glaubwürdigkeit! Wenn selbst ich als Wissenschaftler nicht mehr genau die Grenze zwischen seriöser Forschung und Pseudo-Forschung erkennen kann, wie soll dann ein Laie diesen Unterschied noch erkennen? Wenn mir ein wissenschaftlich erscheinender Artikel über Krebsheilung mit Bienenwachs in die Hände fällt (diesen Unsinn im einer wissenschaftlich aussehenden Zeitschrift zu publizieren ist Journalisten vom „Süddeutsche Zeitung Magazin“ wohl gelungen): woran soll ich erkennen können, dass dies purer Unfug ist? Sieht aus wie Wissenschaft, ist es aber nicht! Gerade im medizinischen Bereich besteht hier potentiell Lebensgefahr, wenn Ratgeberseiten im Internet unter Verweis auf angebliche wissenschaftliche Fundierung unsinnige oder gar krankmachende Empfehlungen aussprechen („Kaffee heilt Krebs„; „Mikrowellen schaden der Volksgesundheit„; „Masernpartys„). Da wird aus Pseudo-Wissenschaft ganz schnell lebensbedrohlicher Ernst!
Wenn es der Wissenschaft nicht selbst gelingt, diesen Unsinn und diese Geschäftemacherei wirkungsvoll abzustellen (und danach sieht es momentan leider aus), hilft nur noch der Gang in die Öffentlichkeit! Wenn die Selbstreinigungskräfte der Wissenschaft diese Pseudo-Wissenschaft nicht zum Stoppen bringen, muss externer Druck erzeugt werden. Geldgeber und verantwortliche Institutionen könnten z.B. schwarze Listen führen („blacklists“), auf denen die Verlage, Konferenzveranstalter und Journals genannt werden, für die kein Geld ausgegeben werden sollte, weil sie die Standards wissenschaftlichen Arbeitens verletzen. Da es diesen Leuten vor allem ums Geld geht, ist das Abdrehen des Geldflusses ein zentraler Hebel.
Deswegen bin ich dem Journalistenteam sehr dankbar für die Kampagne, die indiesen Tagen auf verschiedenen Kanälen und in mehreren Ländern gleichzeitig gestartet wird. Über längere Zeit hinweg habe ich immer wieder Kontakt zu einem der Leiter dieses Reporterteams gehabt und wir haben uns über dieses Thema ausgetauscht – schön, dass die Kampagne von NDR, WDR und dem „Süddeutsche Zeitung Magazin“ in Zusammenarbeit mit weiteren nationalen und internationalen Medien ausgerechnet an meinem 65. Geburtstag gestartet ist! Ich wünsche ihr gute Resonanz und hoffe, dass wir unser Wissenschaftssystem wieder aus den Tiefen solcher Sümpfe herausziehen und damit das Vertrauen der Bürger wiedergewinnen können, von deren Steuergeldern wir in Deutschland alimentiert werden.
Bericht mit O-Ton Funke: hier zum NDR
Nachtrag 24.7.18: Es sind Stimmen laut geworden (siehe diesen Kommentar), die den Begriff „Fake-Science“ für unglücklich halten und z.B. „junk science“ für geeigneter halten – das mag sein, ändert aber zunächst nichts an den fragwürdigen Praktiken, um die es hier geht.
Wer einmal nachschauen möchte, welche Arbeiten mit Beteiligung von Wissenschaftlern der Uni Heidelberg in fragwürdigen Journalen erschienen sind, wird hier fündig: https://goo.gl/n68fVM
Und hier noch eine kleine Link-Sammlung, die ich meinem geschätzten Kollegen Jochen Musch (Uni Düsseldorf) verdanke:
https://www.spektrum.de/kolumne/dieser-begriff-kann-der-wissenschaft-nur-schaden/1579216
https://www.enago.com/academy/sting-operation-reveals-fake-editor-appointed-by-predatory-publishers/
http://www.universityworldnews.com/article.php?story=20170324135257123
TV-Sendungen:
Fake Science – Die Lügenmacher
Das Erste | Montag 23.07.2018 | 21:45 – 22:15
https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/exclusiv-im-ersten-fake-science-die-luegenmacher-102.html
https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/mittagsmagazin/videos/das-geschaeft-mit-den-fake-studien-100.html
Betrug statt Spitzenforschung – Wenn Wissenschaftler schummeln
WDR | Dienstag 24.07.2018 | 21:00 – 21:45
https://www1.wdr.de/fernsehen/quarks/sendungen/quarks-vorschau-102.html
hier der Link zur Klageschrift der amerikanischen Kartellbehörde gegen OMICS (Januar 2018): https://www.ftc.gov/system/files/documents/cases/omics_de_86_-_ftc_motion_for_summary_judgment.pdf
Hier eine Email eines vermutlich unseriösen Verlags (deswegen witzig, weil dort in der Anrede „Dear funke“ vermutlich „Professor“, nicht „Processor“ gemeint war):
Nachtrag 20.8.18: Professorin Helga Nowotny, ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrats, hat sich im Gespräch mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ gegen den Begriff „Fake-Science“ als Bezeichnung für zweifelhafte Publikationen ausgesprochen: „Der Ausdruck ‚Fake-Science‘ ist irreführend. Es geht dabei nicht um eine absichtliche Täuschung der Öffentlichkeit – das wäre wissenschaftlicher Betrug -, sondern um Veröffentlichung von Forschungsarbeiten ohne Qualitätskontrolle durch Peer-Review“.