Mein luxemburgischer Freund Dr. Jean-Paul Reeff ist völlig überraschend im Alter von 61 Jahren in der Berliner Wohnung seiner langjährigen Lebenspartnerin Petra Stanat verstorben. Eine schockierende Nachricht, hatte wir doch erst vor kurzem seinen 60. Geburtstag in Bonn im Kreis vieler Freunde aus aller Welt gefeiert. Kennengelernt haben wir uns Anfang der 1980er Jahre an der Universität Trier, wo Jean-Paul an einem Austausch über Wahrnehmungspsychologie interessiert war. Er hatte in Innsbruck bei Ivo Kohler über Infraschall promoviert und sich mit nicht-euklidischer Geometrie beschäftigt.
Mit dem Wechsel Jürgen Bredenkamps von Trier nach Bonn im Herbst 1984 kam auch Jean-Paul mit ans Bonner Institut und begleitete dort den Aufbau unseres Demel-Blickbewegungslabors (DEBIC-84, später DEBIC-90). Das war zu der Zeit noch viel Frickel-Arbeit; neben der Programmierung von Schnittstellen war auch der Lötkolben unverzichtbar. Er hatte als einer der ersten eine Next-Station in seinem Büro und war damit computertechnisch allerbestens ausgestattet. Durch ihn bin ich mit den Segnungen und Flüchen des Internet vertraut geworden. Durch ihn wurden Thomas Krüger und ich angeregt, den ersten WWW-Server eines psychologischen Instituts (https://www.psychologie.uni-bonn.de, damals noch in der Bonner Römerstrasse 164) einzurichten. Durch ihn haben ein paar Bonner Kollegen und ich auch Zugang zu Forth erhalten, einer exotischen Programmiersprache – es gab auf unseren Fluren einige Zeit ein richtiges Forth-Fieber, das Jean-Paul ausgelöst hatte.
Schon früh erkannte Jean-Paul den Wert bestimmter Formalismen für die Erzeugung von Item-Universen, ob es Rainer Mausfelds ABRESY (Abstrakte Regelsysteme von Rainer Mausfeld und Reinhard Niederee, Bonner Methoden-Berichte 2, 1, 1985 – hier als PDF) oder mein eigener DYNAMIS-Ansatz war. Sein 2006 erschienener Bericht „The Assessment of Problem-Solving Competencies“ (zusammen mit Anouk Zabal und Christine Blech im Auftrag des DIE, Bonn, verfasst) hat mitgeholfen, den Übergang vom Assessment statischen Problemlösens hin zu dynamischem Problemlösen zu bahnen – wie überhaupt Jean-Paul mich dazu gebracht hat, mich an PISA zu beteiligen. Ohne Jean-Paul wären meine PISA-Aktivitäten nicht zustande gekommen – dafür bin ich ihm sehr dankbar!
Sein weltweites Engagement für Bildung führte ihn ebenso nach Afghanistan (siehe hier ein Interview dazu) wie nach Südafrika, in die USA oder nach Japan (siehe meinen Bericht über meine Japan-Reise, die Jean-Paul erst möglich gemacht hatte). Neben seiner Anstellung, zunächst am Luxemburger Erziehungsministerium, später am DIPF in Frankfurt, gründete er verschiedene Firmen. Zuletzt war er Board Member der in Luxembourg ansässigen “International Innovation Management and Consulting S.A.“. Seine zeitweilig in Bad Neuenahr-Ahrweiler ansässige Firma „LIFE Consult“, die offen zugängliches Bildungsmaterial (OER) fördern sollte, hat mich in den 1990er Jahren erstmals mit den Ideen hinter Open Access vertraut gemacht zu einer Zeit, als es noch keine große OA-Bewegung gab.
Hier seine Selbstbeschreibung auf LinkedIn: „I am an independent consultant and a senior consultant for the German Institute for International Educational Research (DIPF) in the fields of innovation management and international cooperation. I hold degrees in psychology, physics and computer sciences, and a PhD in experimental psychology. I have a strong background in assessment and evaluation, as well as in technology-based learning and assessment. My consultancy focuses on initiating and accompanying large-scale interdisciplinary projects, on technology transfer, and on acting as a broker between research, policy and practice.“
Jean-Paul konnte sich als Luxemburger auf dem internationalen Parkett bestens bewegen: neben Letzeburgisch sprach er fliessend Deutsch, Englisch und Französisch (auch Japanisch konnte er in Grundzügen). Er verstand es wie kein Zweiter, wissenschaftliche Grundlagenforschung für Politiker verständlich zu machen und damit die oft scharfe Trennung der Welten von Politikern und Wissenschaftlern zu durchbrechen. Innovatives Potential hat er überall gesucht und oft gefunden. Seine Begeisterung für Technology Based Assessment war auch deswegen ansteckend, weil er die technologische Entwicklung immer verfolgte und zahlreiche exzellente Kontakte zu Technologiefirmen unterhielt. Auch an der Entwicklung und dem Einsatz der in Luxemburg betriebenen OpenSource-Testdarbietungs-Plattform TAO hatte er Anteil.
Die Entwicklung der Plattform ItemBuilder am DIPF in Frankfurt ist eines seiner Kinder, die auch im Rahmen von PISA große Beachtung fanden. Alle unsere in Heidelberg entwickelten Items für die weltweite PISA-Studie, die ich in meiner Zeit als Chairman der International Expert Group on Problem-Solving zu verantworten hatte, nahmen ihren Anfang im ItemBuilder, den die Münchener Firma Softcon (seit 2014 Teil der Nagarro AG) in enger Absprache mit Jean-Paul und Heiko Rölke vom DIPF entwickelte. Die Freundschaft zu Michael Dorochevsky, dem Chefentwickler, Dieter Hüttenberger, Vorstand der Softcon, und Brigitte Stuckart, der Firmenchefin, war ein tragendes Element dieser Entwicklung.
Während der Zeit Ende der 1980er Jahre, als ich an meiner Habil arbeitete, versorgte Jean-Paul mich mit Elbling, einem trockenen Weisswein, den er aus Luxemburg mitbrachte und der das Schreiben meiner Habil beförderte. Gelegentlich gab es auch Kochkäse-Abende, eine Luxemburger Spezialität, mit der ich mich nicht so recht anfreunden konnte. Umso besser habe ich unsere gemeinsamen Sushi-Essen in Tokyo in bester Erinnerung, auch wenn ich mich vor Fugu bis zuletzt gescheut habe.
Wieviel Flugkilometer Jean-Paul zurückgelegt hat, weiss ich nicht genau – ein Indikator seiner Vielfliegerei war sein priviligierter Status als „Frequent Traveller“, der ihm Zugang zu phantastischen Lounges an den besten Flughäfen der Welt erlaubte. Ich selbst wurde von ihm mehrmals als Gast in diese verborgene Welt des First-Class-Service eingeladen, die neben kulinarischen und hygienischen Annehmlichkeiten auch Office-Leistungen umfasste und wirklich hilfreich war, wenn es etwa Verspätungen oder Flugausfälle gab.
Mit Jean-Paul zusammen war ich in Boston, Budapest, Melbourne, San Francisco, Szeged, Tokyo, Washington – um nur ein paar der großen Städte zu benennen, in die ich durch ihn gekommen bin. Neben den dienstlichen Aufgaben verstand Jean-Paul es auch sehr gut, die Sehenswürdigkeiten der jeweiligen Städte unter die Lupe zu nehmen. Sehr früh hat mich Jean-Paul auch in die Geheimnisse privater B&B-Unterkünfte (als Alternativen zu teuren Hotels) eingeführt, die er in den letzten Jahren auf seinen Reisen zunehmend bevorzugte.
Jean-Pauls große Stärke war es, Menschen aus verschiedenen Kulturen (z.B. Politik, Wissenschaft und Wirtschaft) zusammenzubringen und sie für seine Ideen zu begeistern. Seine immer freundliche Art des Umgangs miteinander hat dies ganz massgeblich gefördert: der Respekt voreinander war stets zu spüren, selbst wenn in den Auffassungen Divergenzen auftraten. Vielleicht hat ihm auch deswegen die japanische Kultur so zugesagt.
Lebe wohl, Joppo! Es war eine gute Zeit mit Dir! Wir werden Dir später folgen! Du wirst uns mit Deinem trockenen Humor, Deiner überragenden Freundlichkeit, Deiner Liebe zu gutem (und ausgefallenem) Essen, und mit Deinen unendlichen Kontakten in die weite Welt der Bildungspolitik fehlen! Dein Leben war ungerecht kurz, aber es war voll an Erfahrungen und Aktivitäten! Du hast in dieser Zeit sehr sehr viel bewegt! Ein kleiner Trost!
hier der Nachruf vom DIPF: https://www.dipf.de/de/dipf-aktuell/apropos-dipf/nachruf-jean-paul-reeff
PS: Am 31.5. haben viele seiner Freunde und Angehörigen an der Beisetzung seiner Urne teilgenommen. Sie liegt jetzt auf einem sehr schönen Friedhof: auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof, Großgörschenstraße 12-14, 10829 Berlin-Schöneberg (Grabstelle: Q18/09).