Systemkompetenz für das 21. Jahrhundert

Wie müssen wir Bildung im 21. Jahrhundert interpretieren, wenn Google mehr Antworten auf unsere Fragen liefert als wir verarbeiten können? Weitermachen wie bisher? Andere Fragen stellen? Die OECD und ihr Direktor für Erziehungsfragen Andreas Schleicher haben im Jahr 2016 einen spannenden Bericht mit dem Titel „Global competency for an inclusive world“ vorgelegt (Link zum PDF), in dem das Rahmenprogramm 2030 der OECD (Education 2030 Framework) beschrieben wird. Wissen, Fähigkeiten und Werte werden dabei zu handlungsrelevanten Kompetenzen zusammengeführt. Andreas Schleicher hat übrigens gerade einen hörenswerten Impulsvortrag hierzu gehalten, und zwar auf dem Berliner Forum „Bildung & Zivilgesellschaft“ (den 30minütigen Vortrag „The future of skills“ kann man hier abrufen: https://youtu.be/5h2TnJPdSc0).

Zusammen mit Andreas Fischer und Daniel Holt habe ich einen Artikel über Problemlösen im 21. Jahrhundert (Titel: „Competencies for complexity: Problem solving in the twenty-first century“) verfasst, in dem wir für das Konzept „Systemkompetenz“ als einer Schlüsselqualifikation für die Bildung von Menschen werben. Wir verstehen darunter den erfolgreichen Umgang mit komplexen Systemen in einem sehr breiten Verständnis.

Komplexe Zusammenhänge zu verstehen heisst vielerlei. Es betrifft vor allem Struktur und Dynamik. Die Struktur von Systemen zu verstehen heisst ihre Statik kennenzulernen: Aus welchen Elementen besteht das Systemganze? Muss sich ein Kardiologe bei der Untersuchung des Herzens auch Lunge, Niere, Leber, Hirn, etc miteinbeziehen? Wo liegen die Systemgrenzen? Die Schwächen einer „Organmedizin“ liegen ja gerade in falsch gezogenen Systemgrenzen. Die Schwächen individueller Psychotherapie versuchen wir durch familienbezogene Ansätze zu überwinden. Und weiter: Wie sind die Elemente vernetzt? Hier muss Intransparenz reduziert werden, da viele Verbindungen gar nicht evident sind (verborgene Elemente, verborgene Beziehungen führen schnell in die Irre). Ist die Struktur stabil oder schwächen sich Beziehungen über die Zeit hinweg ab?

Systeme von ihrer dynamischen Seite her zu verstehen heisst zeitliche Abläufe zu erkennen und das Nacheinander von Ereignissen intelligent in einer kausal bedingten Abfolge zu interpretieren: Welche Ursache erzeugt welchen Effekt? Vielleicht erzeugen bestimmte Ursachen mehr als einen Effekt, vielleicht gar eine Kettenreaktion? Pseudokontingenzen verstellen den Blick auf die Wirklichkeit. Wann treten Effekte auf, unmittelbar oder erst mit Verzögerung Gibt es Nichtlinearitäten (minimale Interventionen erzeugen starke Effekte) oder „tipping points“ (ab welchem Grad an Überdüngung kippt ein Ökosystem? wann platzt ein Luftballon?).

In unserem Artikel fragen wir uns, wie man derartige Kompetenzen erfassen könnte. Wir kommen zu dem Schluß, dass die derzeitig favorisierten und von uns in der Vergangenheit mitentwickelten linearen Kleinsysteme zwar psychometrisch vorzügliche Eigenschaften aufweisen, aber gerade an den Besonderheiten komplexer Systeme vorbeizielen und daher eine Neuorientierung der Forschung nötig machen. Vielleicht kann man sich auch fragen, ob der Begriff des „Lösens“ komplexer Probleme angemessen ist und welche Alternativen es dazu gibt. Der Potsdamer Politikwissenschaftler Falk Daviter spricht in einem gerade erschienenen Artikel die drei Alternativen „Bewältigen, Zähmen, Lösen“ (coping, taming, solving) im Umgang mit vertrackten Problemen an. Darüber sollten wir nachdenken.

Hier die Zusammenfassung unseres Beitrags: „In this chapter, we present a view of problem solving as a bundle of skills, knowledge and abilities that are required to deal effectively with complex non-routine situations in different domains. This includes cognitive aspects of problem solving, such as causal reasoning, model building, rule induction, and information integration. These abilities are comparatively well covered by existing tests and relate to existing theories. However, non-cognitive components, such as motivation, self-regulation and social skills, which are clearly important for real-life problem solving have only just begun to be covered in assessment. We conclude that currently there is no single assessment instrument that captures problem solving competency in a comprehensive way and that a number of challenges must be overcome to cover a construct of this breadth effectively. Research on some important components of problem solving is still underdeveloped and will need to be expanded before we can claim a thorough, scientifically backed understanding of real-world problem solving. We suggest that a focus on handling and acting within complex systems (systems competency) may be a suitable starting point for such an integrative approach.“

Neben dieser Zusammenfassung gibt es auch eine Bewertung unserer Ideen durch die Mitherausgeberin Esther Care (Melbourne University). In deren Kapitel „Twenty-first century skills: From theory to action“ heisst es über unser Kapitel folgendermassen:

    Funke et al. (2018) focus on complexity. Rather than seeing problem solving as a simple model in which a number of processes combine to facilitate a desired outcome, their approach considers the role played by non-cognitive factors such as motivation and self-regulation. This moves the discussion past recent views which have focussed on problem solving solely as a cognitive set of processes. Constructs such as collaborative problem solving have considered the additional role of social processes but primarily due to the need to make interactive processes explicit as part of group approaches to problem solving. The authors express some impatience with the slowness of technical progress in assessment of problem solving, dare to refer to the invisible elephant, “g”, although without resolution of its role, and suggest expansion of the computer-simulated microworlds approach to assess their postulated “systems competence”. Although this may provide the potential to capture communication as well as the cognitive processes in problem solving, social characteristics such as self-regulation or motivation, initially identified as clearly important by the authors, remain to be addressed. As researchers struggle to theorise and measure increasing complexity as knowledge about that complexity increases, this chapter raises questions about whether systems competence is merely about acting on a complex problem space that requires a multiplicity of different problem solving processes, or whether it is something qualitatively different.

Das hört sich sehr ermutigend an!

Quelle: Funke, J., Fischer, A., & Holt, D. V. (2018). Competencies for complexity: Problem solving in the twenty-first century. In E. Care, P. Griffin, & M. Wilson (Eds.), Assessment and teaching of 21st century skills. Research and applications (pp. 41–53). Cham: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-319-65368-6_3

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