Der Begriff der „Postfaktischen Politik“ (post-truth politics) ist zu einem neuen Schlagwort geworden: Im Zuge von Brexit und den im November 2016 erfolgten USA-Wahlen wurde deutlich, dass ein Spiel mit Emotionen im politischen Kontext offensichtlich erfolgreich sein kann, selbst wenn die Fakten dagegen sprechen. Für Wissenschaftler auf der ganzen Welt muss das eine Provokation sein: Wir versuchen in unseren Kreisen die Fahne der Wahrheit hochzuhalten, zumindest die des kritischen Denkens (je nach Wahrheitskonzeption), wohl wissend, wie schwer es manchmal ist, zu einem klaren Urteil zu gelangen.
Dass aber anerkannte Tatbestände wie z.B. Klimawandel oder wachsende ökonomische Ungleichheit unverhohlen geleugnet werden und man mit Falschaussagen bei Wahlen Mehrheiten bekommt, ist ein schockierender Tatbestand, der jeden Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin beunruhigen muss. Und natürlich kommt sofort die Psychologie ins Spiel, die sich mit Fragen beschäftigt wie z.B. der, warum Fakten nicht akzeptiert werden und warum ein Spiel mit Emotionen wirkungsvoller ist als eine Aufzählung von Fakten.
Dazu kommt: Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik ist offensichtlich gestört. Ob es an einem Glaubwürdigkeitsverlust der Wissenschaften liegt, ist schwer zu sagen – „die“ Wissenschaften gibt es nicht, es gibt einzelne Wissenschaftler, die keine hohen ethischen Standards befolgen, aber natürlich gibt es Stimmungen und Meinungen über Wissenschaft im Allgemeinen. Am Beispiel der Psychologie sieht man ja auch, dass zu den drängenden gesellschaftlichen Problemen („Große gesellschaftliche Herausforderungen„) kaum Äußerungen prominenter Wissenschaftler zu hören sind. Sind wir alle wieder im Elfenbeinturm versammelt? Das Schweigen der Wissenschaftler ist laut und deutlich zu hören.
Verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen ist schwierig – vielleicht können wir in kleinen Schritten unsere Nützlichkeit für die Gesellschaft, die uns ja alimentiert, aufzeigen? Um es mit einem Statement von Dietrich Dörner zu sagen: Man darf nicht immer nur behaupten fliegen zu können – ab und zu muß man auch mal einen Gleitflug demonstrieren.
Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat das Wort „postfaktisch“ zum Wort des Jahres 2016 gekürt. Welche Art von Auszeichnung ist das? Ich wäre froh, wenn wir wieder zu einer fakten-orientierten Gesellschaft und einer fakten-orientierten Politik zurückkehren könnten. Dort hat Wissenschaft ihren Platz. Das Programm der Aufklärung, das vor gut 300 Jahren begann, ist noch nicht zu Ende – ganz im Gegenteil brauchen wir verstärkte Anstrengungen, um die Ideale der Vernunft, Toleranz und Menschlichkeit auch in diesen stürmischen Zeiten hochzuhalten.
Der Philosoph Karl Jaspers (einer der Neubegründer der Universität Heidelberg nach dem Ende des 2. Weltkriegs) hat in seinem 1946 erschienenen Buch „Die Idee der Universität“ (Heidelberg: Springer) die Aufgabe der Universität sehr ergreifend als „bedingungslose Wahrheitssuche“ auf S. 9 wie folgt beschrieben:
“]„Die Universität hat die Aufgabe, die Wahrheit in der Gemeinschaft von Forschern und Schülern zu suchen. Sie ist eine Korporation mit Selbstverwaltung, ob sie nun die Mittel ihres Daseins durch Stiftungen, durch alten Besitz, durch den Staat, und ob sie ihre öffentliche Autorisierung durch päpstliche Bullen, kaiserliche Stiftungsbriefe oder landesstaatliche Akte hat. Unter allen diesen Bedingungen kann sie ihr Eigenleben unabhängig vollziehen, weil die Begründer der Universität dieses wollen oder solange sie es dulden. Sie hat ihr Eigenleben, das der Staat frei läßt, aus der unvergänglichen Idee, einer Idee übernationalen, weltweiten Charakters wie die der Kirche. Sie beansprucht und ihr wird gewährt die Freiheit der Lehre. Das heißt, sie soll die Wahrheit lehren unabhängig von Wünschen und Weisungen, die sie von außen oder von innen beschränken möchten.
Die Universität ist eine Schule, aber eine einzigartige Schule. An ihr soll nicht nur unterrichtet werden, sondern der Schüler an der Forschung teilnehmen und dadurch zu einer sein Leben bestimmenden wissenschaftlichen Bildung kommen. Die Schüler sind der Idee nach selbständige, selbstverantwortliche, ihren Lehrern kritisch folgende Denker. Sie haben die Freiheit des Lernens.
Die Universität ist die Stätte, an der Gesellschaft und Staat das hellste Bewußtsein des Zeitalters sich entfalten lassen. Dort dürfen als Lehrer und Schüler Menschen zusammenkommen, die hier nur den Beruf haben, Wahrheit zu ergreifen. Denn daß irgendwo bedingungslose Wahrheitsforschung stattfinde, ist ein Anspruch des Menschen als Menschen.“
Diesem hohen Anspruch sollten wir in einer postfaktischen Kultur uneingeschränkt folgen – mal abgesehen davon, dass wir uns unsere Kultur nicht von zynischen Politikern vorschreiben lassen sollten.