Deckname „Schal“

Im Jahr 1984 bin ich als junger Assistent von der Uni Trier an die Uni Bonn gewechselt. Kurz darauf traf ich am Bonner „Institut für Test- und Begabungsforschung“ (ITB) einen Kollegen aus der damaligen DDR, der Freunde aus dem ITB und mich zu Konferenzen nach Ost-Berlin einlud. Dort trug ich z.B. meine Ideen über die Verwendung computersimulierter Szenarien vor – stolz, ein „Staatsgast der DDR“ gewesen zu sein und dafür 25 Ost-Mark pro Tag bekommen zu haben.

Heute bekam ich Post aus Berlin – vor ein paar Monaten hatte ich die Stasi-Behörde angeschrieben und gefragt, ob sie Informationen über mich gefunden hätten. Ja, es gibt tatsächlich Informationen! Ausgerechnet in der berüchtigten Rosenholz-Datei findet sich Material (zum Vergrößern anklicken) über mich auf Formblatt Personenkartei F 16:

Eine Karteikarte, angelegt am 11.3.1986, macht deutlich, dass ich wohl durchaus von Interesse für die Stasi war (das – bestens informierte – Bundes-Außenministerium hatte mich vor meiner ersten Reise nach Ost-Berlin einbestellt und mich vorgewarnt…).

Querverweise meines Aktenzeichens XV 78/76 führen zu einer anderen Karteikarte (zum Vergrößern anklicken), dem Formblatt Vorgangskartei F 22:

Auf der zweiten Karte ist mein „Betreuer“ vermerkt: der seit 1976 operierende IM (=inoffizieller Mitarbeiter) mit dem Decknamen „Schal“! Anläßlich des Kontakts mit mir scheint der Vorgang vom IMB zum IMA befördert worden zu sein. Leider sind wohl weitere Unterlagen im Schredder gelandet, aus denen hervorgehen könnte, was ich Interessantes zu bieten hatte – vielleicht ganz gut, denn es gab ja neben den Konferenzen auch noch etwas Freizeit 🙂 Auf der Suche nach Details, mit denen man mich hätte erpressen können? Ob die damals in Ostberlin lebende russische Problemlöseforscherin Olga (mit exzellenten Deutsch-Kenntnissen) über mich berichten musste? Von ihr stammt die russische Übersetzung [PDF] unseres Trierer Alkoholismus-Inventars.

Waren die Stasi-Leute etwa an meinen denkpsychologischen Forschungen interessiert? Ich glaube es nicht – das Interesse galt eher den Rechnern, die ich nach Ostberlin mitbrachte, um meine Szenarien zu demonstrieren. Sie enthielten nämlich einen Intel 386er Prozessor, der damals unter einem militärischen Ausfuhrverbot in den Ostblock stand. Was nach den wissenschaftlichen Vorträgen mit dem Prozessor geschah, kann man sich denken… Und im Auto zusammen mit Gernot Schuhfried bin ich damals an der Passierstelle freundlich durchgewunken worden (es gab allerdings auch andere Erfahrungen am Palast der Tränen). Aber wie gesagt: vielleicht wollten die Stasi einfach auch Material sammeln, das irgendwann einmal gegen mich hätte verwendet werden können.

Die wissenschaftlichen Kontakte wurden durch die Stasi nicht gestört: Zusammen mit Jürgen Guthke (Uni Leipzig), einem der Väter des Lerntest-Konzepts („testing the limits“, „dynamic testing“), hatte ich 1990 nach der Wiedervereinigung ein dreijähriges Projekt „KOVALT“ beantragt, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) dann als das erste deutsch-deutsche Gemeinschaftsvorhaben bewilligte (Fu 173/2). Jens Beckmann war damals unser Mitarbeiter an den beiden Standorten Leipzig und Bonn – Jens wurde 1994 mit einer Dissertation über die Projektarbeit „Lernen und komplexes Problemlösen: Ein Beitrag zur Konstruktvalidierung von Lerntests“ an der Uni Leipzig promoviert.

Dass ich ein potentielles Objekt der Hauptverwaltung Aufklärung beim Ministerium für Staatssicherheit sein könnte, habe ich mir bereits bei meinen ersten Besuchen in der DDR gedacht. Trotzdem ist es ein merkwürdiges Gefühl, jetzt plötzlich die (unvollständigen) Unterlagen einzusehen, die damals angefertigt wurden und die deutlich machen, dass ich tatsächlich beobachtet wurde.

Übrigens: Ich glaube zu wissen, wer „Schal“ ist 🙂

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