Es kommt selten vor, dass sich Philosophen auf die Niederungen der Lernpsychologie einlassen – im Feuilleton der „Zeit“ (Nr. 11/3.3.2016, S.39-40) schreibt Peter Sloterdijk über Iwan Pawlows Hund (von Sloterdijk als „Welt-Ikone des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet), der für uns Psychologen das Prinzip der klassischen Konditionierung (= Signallernen) verkörpert. Er schildert die Entdeckung Pawlows wie folgt:
„Man darf es als eine Ironie der Ideengeschichte ansehen, wenn heute mehr als ein Grund erkennbar wird, warum man sich heutzutage erneut mit den Pionieren der »materialistischen Psychologie« in der frühen Sowjetunion, namentlich Pawlow und Bechterew, befassen sollte. Vergessen wir für einen Moment, was die meisten ohnehin nicht wussten: dass Pawlow einer der größten Tierquäler der Menschheitgeschichte war. Halten wir uns an das Bekannte: Er war der Entdecker eines der mächtigsten psychophysischen »Mechanismen«, die jemals experimentell offengelegt wurden. Der Pawlowsche Hund wurde neben Laika, der Weltraum-Hündin, und neben Andy Warhols Cola-Dosen zu einer Welt-Ikone des 20. Jahrhunderts, weil er die Darstellung des Kausalzusammenhangs zwischen Zeichenwelt und Physiologie in die Öffentlichkeit trug. Pawlows Hund ist ein so tragisches und betrogenes Tier wie Charlie Chaplins Tramp der Archetypus des komischen armen Tropfs war. Dass ihm der Speichel fließt, nur auf das Zeichen hin, das anfangs die Fütterung begleitete, auch wenn es später kein Futter mehr gab, enthält einen abgründigen Hinweis auf die symbolabhängige Dressierbarkeit von lernfähigen Lebewesen. Die Physis wird von der Zeichensphäre überlistet.
Pawlow selbst schreckte vor Anwendungen seiner Entdeckung auf Humangesellschaften nicht zurück. Als tapferer Materialist übertrug er, vom frühsowjetischen Zeitgeist beflügelt, das Muster des bedingten Reflexes auf das menschliche Zusammenleben im Ganzen und deklarierte alles, was wir Kultur nennen, zu einem riesenhaften Komplex aus bedingten Reflexen. Scheinbar autonome Disziplinen wie Soziologie, Politologie, Kulturtheorie und Semiotik, sie alle werden damit zu Sonderfällen der höheren Reflexologie. Auch die Strategiekunde, nicht selten (neben der Ästhetik) für das Summum situativer Urteilskraft gehalten, erscheint im Licht dieser ultrakühlen Logik bloß als eine Form der reflexiven Handhabung von bedingten Reflexen.“
Diese (politische) Einordnung von Pawlows Entdeckung als „symbolabhängige Dressierbarkeit von lernfähigen Lebewesen“ finde ich spannend. Unsere Lehrbücher nehmen zur politischen Dimension dieser Entdeckung meist keine Stellung. Interessant, wie Philosophen das sehen!