Abschied von Oliver Sacks

"9.13.09OliverSacksByLuigiNovi" by Luigi Novi. Licensed under CC BY 3.0 via Commons

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Oliver Sacks ist tot – er ist am 30.8.2015 im Alter von 82 Jahren an Krebs gestorben. Diese Nachricht ging gestern durch die Medien und hat auch mich zum Einhalten bewegt.

Seine Bücher haben mich vor vielen Jahren für die Neuropsychologie begeistert: Die präzisen Fall-Schilderungen von skurilen psychischen Störungen, die neurophysiologische Ursachen hatten („Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“), nach den Vorbildern von Alexander Luria; seine liebenswerten Schilderungen der Patienten; die Erkenntnismöglichkeiten von Fallstudien.

Apropos Case-Studies: In der Medizin sind sie bis heute üblich, in der Psychologie dagegen sind sie aus dem Kanon der Erkenntnismöglichkeiten so gut wie verschwunden. Wir versuchen in Heidelberg gerade, diese Option neu zu beleben, in dem wir die Aktualgenese des Problemlösens an Einzelfällen beschreiben wollen unter Heranziehung von Verhaltensdaten, Log-Dateien, physiologischen Daten, Laut-Denk-Protokollen, Emotionsratings, etc. In der Frühzeit unseres Faches waren allen Fachleuten die wichtigen Case-Studies bekannt: der Fall „Anna O.“ von Sigmund Freud; „Little Albert“ von John Watson; der Patient „Phineas Gage“ von John Harlow; der Schimpanse „Sultan“ von Wolfgang Köhler. Case-Studies müssen übrigens nicht Personenbeschreibungen sein, sondern können auch Ereignisbeschreibungen sein wie z.B. eine psychologische Detailanalyse des Reaktorunglücks von Tschernobyl durch James Reason.

Ich erinnere mich noch sehr gut an den tollen öffentlichen Vortrag, den Oliver Sacks im Januar 2002 in der holzgetäfelten Alten Aula unserer Universität gehalten hat, die völlig überfüllt war (damals waren auf der Tribüne der Aula auch noch zahlreiche Plätze belegt, die heute aus Sicherheitsgründen gesperrt sind). Anlass war sein gerade neu erschienenes Buch „Onkel Wolfram“ (Uncle Tungsten). Er sprach von seiner Begeisterung in Bezug auf Robert Bunsen (dem Herrn, der so mächtig vor unserem Institut wacht und übrigens auch in der Alten Aula verewigt ist); eine Begeisterung, die ihn bereits als Kind dazu brachte, sich der Naturforschung zu widmen. Zum Beweis seiner Begeisterung zog er einen Bunsenbrenner samt Gaspatrone aus seinem Rucksack und wollte ihn gerade entzünden, als der damalige Hausmeister herangestürmt kam und Oliver Sacks den Brenner aus der Hand riss mit der Bemerkung: “In dieser Aula wird kein Feuer gemacht!”. Sacks verzichtete unter diesen Umständen auf die Demonstration…

In einem Rückblick auf sein Leben („My own life“, erschienen hier in der NYT) schliesst er seine Rückschau mit den schönen Worten: „Above all, I have been a sentient being, a thinking animal, on this beautiful planet, and that in itself has been an enormous privilege and adventure“ (Darüber hinaus war ich ein fühlendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem schönen Planeten, und das allein ist schon ein gewaltiges Privileg und Abenteuer). Eine schöne Selbstbeschreibung: „Thinking Animal“. Das möchte ich auch sein! Die Betonung liegt dabei mehr auf Thinking als auf Animal 🙂

Die New York Times bezeichnete ihn wegen seines literarischen Stils als „poet laureate of contemporary medicine“; mit seinen hohen Auflagen erreichte er ein breites Publikum, bei dem er um Verständnis für spezielle kognitive Ausfälle warb. Diese Stimme wird uns nun fehlen. Vielleicht ein Grund, eines seiner Werke erneut zu lesen!

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