Je suis Charlie – und nun?

Der Terror-Anschlag von Paris am 7.1.2015: schrecklich, brutal, menschenverachtend! Wie gut, dass eine Welle der Solidarität rollt und die Meinungsfreiheit als eines der höchsten Güter demokratischer Verfassungen in den Mittelpunkt rückt! Geht das Ereignis unsere Disziplin „Psychologie“ an? Natürlich! Das Thema geht uns alle an, also auch uns Psychologen. Was können wir zur Erklärung beitragen, was zur Verhinderung weiterer derartiger Anschläge?

Aus meiner Sicht muss dies mittel- und langfristig auch Konsequenzen für die angewandte Forschung haben. Wenn sozialwissenschaftliche Forschung gesellschaftliche Relevanz erlangen will, muss sie hier vermehrt Beiträge zum Verständnis, zur Therapie und Prävention anbieten. Das geht aber nur, wenn für entsprechende Forschung auch finanzielle Förderung möglich ist. Solange die Suche nach den letzten Geheimnissen der Teilchenphysik drastisch mehr Fördermittel erhält als die Suche nach den Wurzeln des Terrorismus, kann wissenschaftlich begründete Erkenntnis über diesen Phänomenbereich nicht wirklich wachsen (dabei wäre sie im Vergleich zu apparateintensiver Forschung viel billiger).

„Je suis Charlie“ – dieses Motto der Solidarität mit den Opfern gefällt mir, aber es ist zu wenig, wenn es ein Lippenbekenntnis bleibt. Brauchen wir mehr Überwachung, mehr Polizeischutz? Wenn wir nicht an die Wurzeln des Terrorismus gehen, vermutlich ja – obwohl wir auch ständig erfahren, dass selbst die gigantischen Datensammlungen in den USA terroristische Anschläge nicht verhindern. Und mehr Überwachung und Kontrolle: damit gäben wir ja gerade ein Stück der Freiheit her, um die wir kämpfen.

In Paris wurde 1789 das Ideal von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ausgerufen – Ideal und Wirklichkeit klaffen leider immer noch auseinander! Unfreiheit, Ungleichheit und Unmenschlichkeit sind auf diesem Planeten leider häufig anzutreffen – aber das ist kein Grund, von Idealen abzuweichen. Der Traum „Alle Menschen werden Brüder“ ist ein schöner, auch wenn der Alltag leider anders aussieht.

Was kann man tun? Es sind sicher viele Faktoren verantwortlich dafür, dass Menschen Gewalt als letztes Mittel ihrer Interessen einsetzen. Ein Ansatzpunkt unter mehreren wäre, Bildung und Aufklärung in die Regionen zu tragen, wo Menschen bislang noch keinen freien Zugang zum Wissen haben und sich keine eigene Meinung bilden können. Und mit „Region“ sind keineswegs nur entlegene räumliche Gebiete gemeint, sondern auch die Region der bildungsbenachteiligten Schichten unserer westlichen Gesellschaft. Dass in den Banlieues größerer französischer Städte nicht nur preiswerte Schlafstätten vermietet werden, sondern auch Bildung schwerer zu vermitteln ist, scheint ein Teil des Problems zu sein und ist in deutschen Grossstädten vermutlich nicht viel anders.

Bildung ist auch ein Beitrag zur Chancengleichheit bzw. Chancengerechtigkeit: Wofür lohnt es sich zu arbeiten? Tatsächlich zeigen Studien der OECD, dass mehr Bildung zu höherem Einkommen führt: „Bildung ist in allen OECD-Staaten der sicherste Weg, um ein hohes Einkommen zu erzielen. Mit jedem weiteren Bildungsabschluss steigt es in der Regel an. Besonders lohnenswert ist unter diesem Aspekt ein Abschluss im Tertiärbereich (Hochschul-, Fachschul-, oder Meisterabschluss). Verglichen mit dem Erwerbseinkommen von Personen mit einem Abschluss im Sekundarbereich verdienen Personen mit tertiärem Abschluss 62 % mehr. Im OECD-Durchschnitt sind es 51 % mehr.“ (OECD, Education at a Glance, 2013). Und gleich noch eine Erkenntnis aus diesem Bericht: „Bildung fördert die Entstehung und Entwicklung von Werten, die bürgerschaftliches Engagement und politisches Interesse anregen, sowie die Fähigkeiten und das Selbstvertrauen des Einzelnen, um sich gesellschaftlich einzubringen.“  Was wollen wir mehr?

Vielleicht sollten wir doch Bildungsausgaben als sinnvolle und systemrelevante Investitionen anerkennen? Im aktuellen Bundeshaushalt 2015 stehen gut 15 Mrd Euro für Bildung und Forschung bereit, im Vergleich zu 32 Mrd Euro für Verteidigung. Das Verkehrsministerium liegt mit gut 23 Mrd Euro auch noch vor dem BMBF-Etat. Welche Prioritäten wollen wir gesetzt sehen? Ich bin für Bildung! Schädliche Nebenwirkungen halten sich in Grenzen – und Bildung kann man leicht teilen! Es ist eines von den besonderen Gütern gemäß der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom, die man bedenkenlos teilen kann und die durch Teilung sogar noch mehr werden!

Der zur Schleife gebogene Bleistift: Ein Zeichen nicht nur für die Solidarität mit den getöteten französischen Karikaturisten, sondern auch ein Zeichen für mehr Bildung! Früher hiess es: Macht Schwerter zu Pflugscharen! Heute könnte man sagen: Bleistifte statt Kalashnikows!

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