In der neuen Ausgabe unserer Universitätszeitschrift „Ruperto Carola“ (Heft 3/2013) steht unter dem Titel „Mit Herz und Verstand: Schlüssel zu einer komplexen Welt“) auf S. 37-43 ein Beitrag von mir über unsere Heidelberger Problemlöseforschung. Hier ist der Text nochmals wiedergegeben:
Ob im Alltag, in Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft – immer häufiger werden wir mit komplexen Problemen konfrontiert. Das „problemlösende Denken“ ist mittlerweile zu einer Schlüsselqualifikation geworden, die uns entscheidend dabei hilft, das Leben zu meistern. Je früher wir diese Kompetenz erwerben, desto besser ist es für uns. Heidelberger Forscher haben eine Methode entwickelt, mit der sie ermitteln können, was uns zu erfolgreichen Problemlösern macht. Ihr Ansatz ist auch in die internationalen PISA-Studien eingegangen.
Die Denkpsychologie ist in den vergangenen Jahren tiefer in die Welt des Komplexen und Unübersichtlichen vorgedrungen. Wir haben ein großes Stück der bis dahin weißen Denklandschaft neu kartiert und zugänglich gemacht – auch wenn sie bei weitem noch nicht vollständig durchdrungen ist. Denkpsychologen nutzen für ihre Untersuchungen heute Computersimulationen mit Dutzenden, Hunderten oder Tausenden Aspekten von bestimmten realen Lebensbereichen. In solchen Szenarien und Mikrowelten soll die Testperson zum Beispiel als Bürgermeister eine Kleinstadt zum Wohlstand führen oder als Entwicklungshelfer ein Dritte-Welt-Projekt leiten. Eines haben alle diese Modelle gemeinsam: Nie weiß man genau, ob und welche Auswirkungen die eigenen Handlungen oder Unterlassungen haben werden.
Komplexe Probleme in komplexen Systemen zeichnen sich durch folgende fünf Merkmale aus:
Eigendynamik: Die Systementwicklung ist oft unabhängig davon, ob man eingreift oder nicht. Das macht eine Abschätzung kommender Entwicklungen nötig. Der Klimawandel ist ein Beispiel hierfür.
Vernetztheit: Jeder Eingriff in ein derartiges System wirkt gleichzeitig auf viele andere Systemteile, es kommt zu Neben- und Fernwirkungen. Dies setzt eine Modellbildung voraus, die wechselseitige Abhängigkeiten darstellt und dann vorausbestimmen kann. Die Verschreibung eines Medikaments erfordert beispielsweise, dass man etwaige Nebenwirkungen einkalkuliert.
Undurchschaubarkeit: Die Elemente und ihre Beziehungen sind nicht direkt zu beobachten. Dies macht aktive Informationsbeschaffung nötig. Beispiel: Vor dem Kauf eines alten Hauses ist man gut beraten, Boden, Bausubstanz und Umgebung sehr genau zu untersuchen.
Unumkehrbarkeit: Begangene Fehler sind nicht mehr korrigierbar. Die fehlerhaften Bedienschritte etwa, die zur Katastrophe von Tschernobyl geführt haben, sind irreversibel.
Polytelie: Mehrere Ziele müssen gleichzeitig berücksichtigt werden. Das macht Prioritätenbildung und Wertentscheidungen nötig. Zum Beispiel müssen bei einem Großflughafen neben den Betreiberinteressen auch diejenigen der Anwohner berücksichtigt werden – oft gibt es keinen einfachen Kompromiss.
Je früher, desto besser
Problemlösendes Denken ist eine Kernkompetenz, die uns unser ganzes Leben lang begleitet. Je früher wir sie erlernen, desto besser. Aus unseren Studien und den internationalen Vergleichen wissen wir, dass deutsche Schüler zwar über das ausreichende Potential hierzu verfügen, faktisch wird diese Fähigkeit im Unterricht jedoch nicht hinreichend genutzt und gefördert. Deutsche Schulen müssten den Lehrplan deutlich stärker problemorientiert gestalten – so wie dies etwa in all denjenigen Ländern geschieht, die in den PISA-Studien erfolgreich abschneiden. Der landesübliche Unterricht ist zu stark auf die Vermittlung von einzelnen Fakten ausgerichtet; Problemlösungsaktivitäten, die einen größeren Zusammenhang herstellen, werden zu wenig oder gar nicht angeregt. Dabei ließen sich solche Fähigkeiten in jedem Schulfach fördern – im Deutschunterricht genauso wie in der Biologie oder der Mathematik.
Das Bewusstsein, wie bedeutsam problemlösendes Denken ist, ist auch in der internationalen Bildungspolitik angekommen: In den jüngsten PISA-Studien der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) spielt das komplexe Problemlösen als schulfachunabhängige Schlüsselqualifikation eine große Rolle. Es geht um übergeordnete Handlungskompetenzen, die es uns ermöglichen, das Leben auch dann aktiv zu gestalten, wenn wir die „beste Lösung“ nicht kennen. Denn das ist der Normalfall – und die eindeutige Lösung die absolute Ausnahme. Viele Schüler können, wenn sie diese Fähigkeit beherrschen, später ohne Zweifel recht patente Problemlöser werden – ganz unabhängig von ihren sonstigen Schulleistungen.
„Problemlösendes Denken ist die Kernkompetenz des 21. Jahrhunderts.“
Im Rahmen des von 2007 bis 2013 geförderten DFG-Schwerpunktprogramms „Kompetenzdiagnostik“ haben wir am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg erforscht, wie Schüler komplexe Probleme erfassen und lösen. Hierfür analysierten wir ihren Umgang mit interaktiven, dynamischen Situationen. Weit über 1000 Schülerinnen und Schüler haben an unseren Experimenten teilgenommen. Die jüngste PISA-Studie 2012 hat sich unsere Methodik zu eigen gemacht. Knapp 70 Staaten weltweit, die mit über 500.000 Schülern im Alter von 15 Jahren an PISA teilnehmen, greifen inzwischen auf den Heidelberger Ansatz zurück. Unsere Vorstellungen zur Erfassung dynamischer, interaktiver Problemlösekompetenz konnten so zu einem globalen Wandel der (inzwischen computerbasierten) Untersuchungsparadigmen beitragen.
Der Heidelberger Ansatz
Unser Untersuchungsdesign basiert auf dem Ziel, authentische Anforderungen in einer zunehmend technisierten Welt zu finden, mit denen wir die Kompetenzen der Schüler verlässlich ermitteln können. Den 15-jährigen Schülerinnen und Schüler wird zum Beispiel ein unbekannter MP3-Spieler auf einem Computerbildschirm präsentiert, dessen Funktionalität sie in wenigen Minuten erkunden sollen. Ihre Aufgabe ist es, das Gerät nach erfolgter Exploration so schnell wie möglich in vorgegebene Zielzustände zu bringen (zum Beispiel „mittellauter Jazz mit vollem Bass“). Erfasst wird die Systematik und Vollständigkeit der Exploration sowie die Anzahl der gedrückten Tasten bis zur Zielerreichung. Neben dem MP3-Spieler gibt es noch andere Aufgaben, bei denen die Schüler ihre Problemlösekompetenz unter Beweis stellen müssen, etwa die Konfiguration einer Armbanduhr oder das Bedienen eines Ticketautomaten.
Bei der Aufgabengestaltung ließen wir uns von der Vorstellung leiten, dass im 21. Jahrhundert der Umgang mit Komplexität und Ungewissheit zu einer zentralen Aufgabe wird, für die es zwar kein eigenes Unterrichtsfach gibt (daher auch die Bezeichnung „crosscurriculare Kompetenz“), die aber in verschiedenen Schulfächern – verstärkt in der Mathematik und den Naturwissenschaften – angesprochen wird. Um diese Kompetenz zu erfassen, haben wir eine sechsstufige Skala entwickelt: Stufe eins sieht das Lösen von Problemen mit ein bis zwei Schritten ohne Plan vor, während Stufe sechs ein differenziertes strategisches Vorgehen in verschiedenen Gebieten beschreibt, bei dem man vielschrittige Pläne flexibel und ressourceneffizient umsetzen kann.
Auch die weltweite PISA-Studie 2012 greift auf diese sechsstufige Skala zurück. Noch ist jedoch nicht bekannt, wie die Schüler in der jüngsten Untersuchung abschneiden – in welchen Ländern sie problemlösendes Denken etwa weit überdurchschnittlich beherrschen und in welchen Ländern sie unter dem OECD-Durchschnitt liegen. Die PISA-Ergebnisse werden Ende dieses Jahres vorgestellt. Festzuhalten bleibt: Die Heidelberger Methodik hat zu einem globalen Wandel der Untersuchungsparadigmen beitragen.
Wie werde ich ein guter Problemlöser?
Um gute und lebenskompetente Problemlöser zu werden, müssen Schüler im Grunde genau dasselbe lernen wie Erwachsene: die Vernetztheit und Dynamik komplexer Problemfelder in den Griff zu bekommen. Der erste Schritt besteht darin, eine unübersichtliche Situation zu strukturieren, indem man von ihr ein umfassendes Modell bildet, das die Abhängigkeiten der jeweiligen Einflussfaktoren integriert – und etwa wichtige von unwichtigen Faktoren trennt. Auf dieser Modellgrundlage lassen sich Dynamik und künftige Entwicklungen der Situation beurteilen: Was passiert als Nächstes, welche Möglichkeiten könnten sich langfristig ergeben? Wie bringt man die einzelnen Fakten in Zusammenhang?
Konkret lassen sich die Denkschritte wie folgt beschreiben: Mache dir bei einem schwierigen Problem ein möglichst umfassendes Modell der Situation und gehe vor deinem geistigen Auge verschiedene Varianten mit unterschiedlichen Entwicklungen und Prozessen durch. Was wäre die jeweilige Konsequenz aus dieser oder jener Entscheidung, und wohin könnte das Ganze in einem dritten Szenario führen? Die wichtigste Empfehlung aber lautet: Wage zu denken! Wir sollten unser Gehirn umfassend, selbstbewusst und aktiv zur eigenen Lebensgestaltung nutzen.
Auf keinen Fall dürfen wir uns von anderen vorschreiben lassen, was wir denken und was wir tun sollen.
Darüber hinaus müssen wir alle – ob Schüler oder Erwachsene – lernen, mit Prozessen umzugehen, die nichtlinear verlaufen. Wir haben eine kulturell tief verwurzelte Tendenz, Entwicklungen gradlinig vorherzusagen – in der Realität aber ist ein solcher Verlauf meist die Ausnahme. Insbesondere natürliche Prozesse verlaufen häufig nicht-linear, etwa der Klimawandel, der zwar langsam einsetzt, sich aber eher früher als später rasant beschleunigen wird. Bereits in der Schule sollten wir also stärker den Umgang mit dynamischen Systemen lernen. Nur wer sich der komplexen Realität aussetzt, vermag mit ihr umzugehen.
Langfristige Effekte und Nebenwirkungen
Natürlich kommen im Alltag viele Denkfehler vor – wer sie kennt, kann sie möglicherweise vermeiden. Die beiden wichtigsten Fehler betreffen den zeitlichen Horizont sowie die Folgen unserer Handlungen. Unsere Problemmodelle sind oft unvollständig, weil wir Entwicklungsprozesse nicht beachten. Bei kurzfristigen Effekten mögen sie noch greifen, für mittel- oder langfristige Effekte aber zielen sie nicht weit genug. Beim Abschluss eines einfachen Ratenvertrags etwa erscheint der monatliche Abschlag zunächst nicht belastend. Momentan mag das gelten – aber die Raten laufen über mehrere Jahre und der Wert des Produktes verfällt rasch. Die längste Zeit zahlt man also buchstäblich für nichts. Der zweite entscheidende Denkfehler betrifft Nebenwirkungen, die wir zugunsten der Hauptwirkung gerne ausblenden. Wer störende Blattläuse im Garten beseitigen will, greift möglicherweise zu einer chemischen Waffe. Die löst dann zwar das Problem, hat aber nebenbei auch die Raupen der beliebten Schmetterlinge vernichtet. Solche unbedachten Nebeneffekte sind in komplexen Denk- und Handlungsfeldern oft gravierender als die Folgen der Lösung.
Fantasie und Vorstellungsvermögen spielen also eine wichtige Rolle beim Problemlösen – in gleicher Weise gilt dies auch für Gefühle. Wir wissen heute, dass praktisch alle Denkprozesse eng mit unseren Emotionen verknüpft sind.
KEYS TO A COMPLEX WORLD
We live in a world that grows increasingly vast and complex in all areas of life – from our daily lives to the domains of politics, economics, science and the environment. More and more frequently, we find ourselves facing problems whose consequences are so far-reaching that we hardly know how to master them. That is why problem solving has become a key qualification that helps us bring order to our everyday life and face up to its challenges. The sooner we acquire these skills, the better. Our team at the Heidelberg Institute of Psychology has developed a method to investigate how even students solve complex problems – an approach that has also been adopted by the worldwide PISA studies.
But what makes a good problem solver? Complex problem solving always aims to deal efficiently with the uncertainties within a plan of action. An appropriate problem solving strategy is mainly characterised by two skills: (a) distinguishing between important and unimportant features of the problem in order to create an exhaustive and yet economical model of the situation, and (b) predicting future developments or changes of the situation. There are, of course, common errors in reasoning; the most frequent ones pertain to blocking out the long-term consequences and ignoring the side effects of actions. Our advice: Dare to think and act in a well-considered way!
There are many domains in which the use of psychological research results could improve daily life and working practice. The investigation of problem solving methods and skills could also provide valuable insights for political issues – be it climate change, the reform of the health care system or the Mideast conflict. These areas hold much unused potential for problem solving research.
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