Selbstregulation: Lebenstempo

Normalerweise beschäftige ich mich nicht mit Ratgeber-Literatur – dafür ist sie mir in vielen Fällen zu „platt“ und undifferenziert. Hier ist eine Ausnahme zu machen: Das neue Buch von Petra Schuseil mit dem Titel „Finde dein Lebenstempo„. Warum? Weil es eine konsequent selbstregulatorische Perspektive einnimmt und der Leserin bzw. dem Leser das Ruder in die Hand gibt!

Lebenstempo: Ein schöner Begriff, der die wahrgenommene Geschwindigkeit beschreibt! Mal scheint das Leben rasend schnell abzulaufen, Ereignisse überschlagen sich und man kommt kaum zum Luftholen – dann wieder gibt es Phasen, wo die Zeit stillzustehen scheint, wo nichts passiert und beinahe buddhistische Leere herrscht. Mal ist man „Herr der Lage“, mal getrieben von äußeren Ereignissen. In meinen 60 Jahren habe ich verschiedene Tempi kennen- und schätzen gelernt.

Was ist besser? Ruhe oder Hektik? Aktion oder Reaktion? Der Ratgeber von Petra Schuseil verweigert sich normativen Vorgaben und überlässt einem selbst die Wahl – und noch besser: eigentlich sollte man sich nicht für das eine oder das andere Lebenstempo entscheiden und die getroffene Wahl dann „durchziehen“, sondern man soll lernen, das Tempo wunschgemäß zu verändern und damit Selbstregulation zu betreiben. Man braucht die richtige Mischung aus Ruhe und Hektik, Aktion und Reaktion. Und diese Mischung macht das Lebensglück aus – „work-life balance“ ist ein Aspekt dieser Mischung.

Wie läßt sich das erreichen? Hilfreich dafür sind Regler, also die Stellschrauben, an denen man regulieren kann, wenn man es versucht. Drei Geschwindigkeits- und vier Qualitätsregler werden beschrieben. Die Geschwindigkeitsaspekte sind (a) zwischen Schnelligkeit und Besonnenheit, (b) zwischen Ungeduld und langem Atem/Ausdauer, (c) zwischen powern und verschnaufen. Die Qualitätsaspekte betreffen die Achse (a) zwischen reagieren und agieren, (b) zwischen langweilen und geniessen, (c) zwischen verplanen und improvisieren und (d) zwischen laut und leise.

Das Buch gibt viele anschauliche Beispiele, ist gut lesbar geschrieben und enthält zahlreiche Aufforderungen für konkrete Übungen. Warum ich so angetan bin: Der Text ist so angenehm undoktrinär und frei von Bevormundungen. Wer langsam gehen will, soll das tun – aber auch mal probieren schneller zu gehen; wer schnell geht, soll das tun – aber auch mal zur Probe langsamer gehen! Viele Übungen werden angeboten, mit denen man die Spannweite seines Verhaltens ausdehnen und mal in andere als die vertrauten Bahnen lenken kann. Damit gewinnt man mehr Flexibilität und Kontrolle über das eigene Verhalten und hat neue Erfahrungsmöglichkeiten. Dem auf seine Routine reduzierten Leben wird hier ein bunteres, abwechslungsreicheres (und damit vielleicht glücklicher machendes) Leben gegenübergestellt, Möglichkeitsräume eröffnet. Das ist auch unter Kreativitätsaspekten interessant.

Ein Beispiel: Für die Liebhaber des Lauten gibt es z.B. Übungen, um Stille ins Leben zu bringen; auf der anderen Seite gibt es Übungen für „stille Wasser“, einmal die lauten Töne zu trainieren. Nach einer kurzen Selbstdiagnose weiss man, wo man steht und was für die eigene Entwicklung noch zu tun wäre. Alle sieben Dimensionen werden in ihren Endpunkten vorgestellt und für jeden Endpunkt Wege zum anderen Endpunkt aufgezeigt.

Gut auch die „Herzenswerte“, d.h. die mit den sieben Reglern verbundenen Werte Gelassenheit, Langmut, Zähigkeit, Entwicklung, Neugier, Vertrauen und Wagemut. Da ich schon seit längerem die Bedeutung von Tugenden und Werten für das Bewältigen komplexer Anforderungen hervorhebe (einer meiner Lieblings-Trainingskurse, die ich anbiete, heisst nicht umsonst „Tugenden und Todsünden für Führungskräfte“), hat mich dieser Punkt sehr erfreut.

Natürlich fehlt die explizite Anbindung an wissenschaftliche Theorien der Selbstregulation – aber die vorgestellten Feedback-Konzepte lassen das m.E. nach leicht machbar erscheinen. Carver und Scheier werden zwar nicht zitiert, aber man kann sie im Hintergrund entdecken. Vielleicht findet sich jemand, der die praxisbezogenen Regelkreise auf unsere wissenschaftliche Konzepte rückbezieht?

Insgesamt ein sehr schönes Buch, das zur Selbstaufklärung und zum Selbstmanagement beiträgt und das Leben bunter machen kann. Ich empfehle es auszuprobieren!

siehe auch meinen Blog-Beitrag von 2009 zum Coaching mit Petra Schuseil: https://joachimfunke.de/2009/08/07/coaching-fur-den-professor/

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