Vom 28.5.-12.6.2011 war ich in Nanjing, China – meine allererste Reise ins Reich der Mitte, 8800 km (11 Flugstunden) entfernt von Heidelberg! Unsere Alumna Dr. Annette Hillers, die an der Nanjing University im Department Psychologie arbeitet, hatte mich eingeladen und dafür Mittel aus dem Uni-Topf „Internationalisierung der Hochschule“ organisieren können, um Flug, Unterkunft und ein kleines Taschengeld für zwei Wochen Gastprofessur mit Unterricht in Sachen „Thinking and Problem Solving“ sowie „PISA 2012 Problem Solving“ bezahlen zu können. Mein Forschungssemester hat mir die Freiheit gegeben, diese Einladung mitten im Semester anzunehmen.
Seit Wochen hatte ich mich darauf vorbereitet (sehr empfehlenswert: „Der China-Knigge“ von Yu-Chen Kuan und Petra Häring-Kuan), Annette hatte ihrerseits viele organisatorische Arrangements geklärt, und dann stand ich plötzlich nach 11 Stunden Flug auf chinesischem Boden! Nanjing: größte Stadt und damit Hauptstadt der Provinz Jiangsu, früher einmal Hauptstadt Chinas (bevor Beijing 1949 zur Hauptstadt wurde), 5.5 Mio urbane Einwohner Stand 2008, heute sicher mehr (der Großraum umfasst sowieso wesentlich mehr), mit imposanten Hochhäusern und (in Teilen) westlichem Erscheinungsbild. Sehr dynamisch, sehr laut, sehr viele Menschen!
Viele neue, überraschende Erfahrungen, viele Gespräche und Kontakte und eine neue Perspektive über ein Land, dem ich als Mitglied von Amnesty International wegen seiner Menschenrechtsverletzungen kritisch gegenüberstehe – dennoch bin ich nach nur 2 Wochen Aufenthalt tief beeindruckt, wie ein Volk mit 1,3 Mrd Menschen sich anstrengt, auf den verschiedensten Gebieten Weltspitze und damit wieder zum Reich der Mitte zu werden, nachdem das 19. und 20. Jh zahlreiche Erniedrigungen enthielt – allein das Massaker von Nanjing, bei dem japanische Besatzer Ende 1937 rund 300.000 Chinesen brutalst getötet haben, wirkt hier noch immer nach. Der deutsche Siemens-Manager John Rabe („Der Schindler von Nanjing“) konnte damals zusammen mit Freunden immerhin 200.000 weitere Menschen durch seine Idee einer Schutzzone retten – übrigens sehenswert verfilmt mit Ulrich Tukur in der Hauptrolle! Sehr ergreifend!
Meine Fahrt nach Shanghai (mit dem Hochgeschwindigkeitszug CRH-Express 1:25 Fahrzeit von Nanjing Hbf nach Shanghai Hbf, das sind etwa 300 km, Spitzengeschwindigkeiten > 350 km/h! Und das alles sehr komfortabel für 28 Euro H+R!) zeigt einen Teil Chinas, der genauso gut in den USA anzutreffen sein könnte, was die Warenvielfalt betrifft. Sämtliche westlichen Luxusmarken sind auf Shanghais Nobeleinkaufsmeile Nanjing Road zu finden (Lamborghini ebenso wie Gucci), und es gibt offensichtlich genug Chinesen, die sich das leisten können! Knapp 18 Mio Einwohner in der Stadt machen es möglich! Beeindruckende Prachtbauten neben sehr ärmlichen Hütten – die Gegensätze können kaum größer sein – und trotzdem geht es friedlich zu!
In Nanjing wird – wie in den meisten chinesischen Boom-Towns – extrem viel gebaut. Tag und Nacht hört man Baulärm, aber die Geschwindigkeit ist frappierend. Die Erneuerung der Neckarufer-Strasse dauert hier in Heidelberg etwa 2 Jahre, während der der gesamte Verkehr belastet ist. Der riesige, neue Campus Xianlin der Nanjing University wurde in gut einem Jahr errichtet (incl. Strassenbau, Metro-Anschluss etc.) und bietet Platz für ca. 30.000 Studierende, die dort wohnen und lernen. Alle Studierenden haben einen Wohnheimplatz, wenngleich unter „Gefängnisbedingungen“ (so die Worte von Studierenden): Zu dritt bis viert in einem Appartement, streng nach Geschlechtern getrennt, feste Schließzeiten des Gebäudes, Einlasskontrolle, kein TV, kein Internet. Dafür eine tolle Campus-Bibliothek, große Sportanlagen, neue Unterrichtsräume (technologisch super ausgestattet – bis auf den Internet-Zugang…) – all das wird hier rasend schnell realisiert und in Betrieb genommen. Ebenso die Metro (U-Bahn), die auf meinen neuen Stadtplan mit einer Linie verzeichnet ist (aber es fahren längst 2 Linien und drei weitere sind im Bau…).
Dynamik, Tempo, Veränderung, Lärm: es fühlt sich sehr lebendig und beweglich an! Dazu die vielen Menschen, fast überall wo man hinkommt, ist schon jemand (und meist nicht nur wenige, sondern wirklich viele!) – lediglich der Platz des Volkes in Shanghai war am 4. Juni, dem Tag meines Besuchs, wegen monsunartigem Regen fast leer (wahrscheinlich politisch gewollt! Das Datum ist ja ein historisches!).
Studierende: Lernbegierig, etwas scheu, aber tauen im persönlichem Gespräch auf. Was sie wollen, sind die drei wichtigsten Dinge im Leben: eine Wohnung, ein Auto, einen sicheren Job – dann heiraten! Eine materialistische Haltung, wenig erkennbare Übernahme von politischer Verantwortung. Ein paar wenige verfolgen idealitische Ziele – the next generations‘ leaders?
Complex problem solving: ganz klar ein Thema für Chinesen! Eindrucksvoll, wie hier inzwischen bei Großprojekten Bürgerbeteiligung realisiert wird, wie verschiedene Interessen koordiniert werden, wie Nebeneffekte berücksichtigt werden. Aus Fehlern lernen: ein Motto chinesischer Vorgehensweise. Ein Beispiel: Der 3-Schluchten-Staudamm hat 30 Turbinen. Wir Deutschen hätten vermutlich die beste Turbine, die auf dem Markt befindlich ist, in 30facher Ausfertigung gekauft – die Chinesen haben bei 15 verschiedenen Herstellern je 2 Turbinen bestellt. Hintergedanke: Man beobachtet, welche Prinzipien sich am besten bewähren (und welche nicht!) und baut am Ende nach einiger Zeit der Erfahrung mit Fremdprodukten selbst die Turbine, die alle Vorteile der verschiedenen Modelle aufzugreifen versucht und daher eine Optimierung bedeutet. Wahrscheinlich sollte ich ab sofort das Kürzel CPS als Abkürzung für „Chinese Problem Solving“ verwenden.
Ein Ausflug auf das Land, 35 km hinter dem Rand der Grosstadt: Menschen, die mit Wasserbüffeln kleine Feldparzellen bearbeiten. Männer, die schwere Wassertröge mit einem Bambusrohr auf den Schultern auf das Feld zum Wässern tragen, wo die Frauen sie ausgiessen. An der Wäscheleine hängt neben dem Hemd die Haut eines gerupften Hühnchens zum Trocknen. Die Toilette ist eine Rinne im Boden, wo man Wasser hinterherschüttet. Alles sehr einfach, ein bisschen fühle ich mich wie in die Vergangenheit zurückgeworfen. Das Hospital sieht sehr schlicht aus (Privatsphäre gibt es dort nicht), der Kindergarten dagegen ist großzügig ausgestattet. Interessant der Plan des Parteisekretärs, den er mit den Dorfbewohnern vierteljährlich bespricht, sie in den nächsten Jahren in ein Neubaugebiet umzusiedeln (Häuser mit Rasen und Garage). Umweltschutz: im Moment kein Thema! Erst mal Geld verdienen, dann können die Gewinne entsprechend investiert werden.
Annette und ich wollen den Kontakt weiterführen und sehen, ob wir Studierende finden, die an „cross-cultural psychology“ interessiert sind und z.B. den Umgang mit komplexen Problemen vergleichend untersuchen wollen. Ich bin sicher, dass hier sehr starke Effekte auftreten werden. Allein die legendären 36 Strategeme aus dem 5. Jh. sind ja schon grossartige kulturelle Zeugnisse strategischen Vorgehens!
Auch nochmal von hier aus: Danke, liebe Annette, für Ihre ausserordentliche Gastfreundschaft! Das war sehr lehrreich für mich! Natürlich möchte ich nochmal wiederkommen 🙂
PS: Zur Vorbereitung auf die Reise hat mir (wie oben bereits gesagt) geholfen: Petra Häring-Kuan & Yu Chien Kuan (2006). Der China-Knigge: Eine Gebrauchsanweisung für das Reich der Mitte. Frankfurt: Fischer. – Zur Vertiefung der Geschichte hilft der wirklich dicke Schinken von Jonathan D. Spence (1990). The search for modern China. New York: Barnes & Noble. – In der Nachbereitung fand ich als Planungsforscher das Buch eines Freiburger Sinologen lesenswert: Harro von Senger (2008). [Moulüe] – Supraplanung. München: Hanser. – Und was meine philosophischen Interessen gestärkt und mich wirklich tief angesprochen hat: Ein „altes“ Buch des chinesischen Autors Lin Yutang (1937). The importance of living. Unbedingt lesen! – Zum Schluß noch ein Film, der sehenswert ist und viel über die chinesische Geschichte aus der Zeit 1940-1980 vermittelt: „Leben!„, 1994 von Zhang Yimou gedreht.