Der Schock über die atomare Katastrophe in Japan steckt vielen in den Gliedern – doch ist das traurige Ereignis wirklich überraschend? Als jemand, der bereits 1992 in seinem Buch „Wissen über dynamische Systeme“ das Reaktorunglück von Tschernobyl aus einer systemtheoretischen Perspektive nachgezeichnet hat, verwundert mich das Ereignis nicht. Komplexe Systeme dieser Art – Atomkraftwerke – bergen unterschiedlichste Risiken, unter denen Erdbeben sogar noch am besten berechenbar sind. Schwieriger vorhersehbar ist sicher der menschliche Fehler wie in Tschernobyl …
Der Zufall will es, das ich gerade in den letzten Wochen das Buch von Charles Perrow (1992) über „Normale Katastrophen“ gelesen habe, weil es mich im Kontext von großtechnologischen Bemühungen zur Reduktion der Erderwärmung (CCS=carbon capture and storage, SRM=solar radiation management) interessiert hat – an atomare Katastrophen hatte ich dabei nicht gedacht. Seine Botschaft vor dem Hintergrund detaillierter Analysen zu Komplexität von Interaktionen und Koppelung von Systemkomponenten, den beiden von ihm fokussierten Dimensionen technischer Systeme: Je komplexer interagierend und je enger gekoppelt technische Systeme konstruiert sind, umso wahrscheinlicher kommt es zu Systemstörungen. In Hinblick auf Kernkraft und Kernwaffen ist seine klare Empfehlung „abschaffen!“, da die Risiken zu hoch ausfallen würden. Die wahren Gefahren stecken im System selbst, nicht in den Operateuren oder den Systemkomponenten – Fukushima und andere AKWs würden ihr Risiko nicht verlieren, wenn wir die Operateure noch besser ausbilden oder die Systemkomponenten noch hochwertiger herstellen – das Risiko steckt im System selbst!
Ein Grund mehr, sich mit Systemen und dem menschlichen Umgang damit zu widmen – sei es das System Kernkraftwerk, sei es der Umgang von Menschen mit dem System „Klima“. Aber auch in kleineren Maßstäben ist dieses Systemverständnis gefordert, wenn z.B. ein Patient mit Diabetes die Regulationsprozesse des Blutzuckerhaushalts verstehen muss. Systemisches Denken: Wer unterrichtet uns darin? Lineares Denken lernen wir an jeder Ecke („mehr bringt mehr“), aber die Welt funktioniert nicht nur nach linearen Prinzipien! Dass an vielen Stellen in biologischen oder physikalischen Systemen tipping points lauern, hat uns die Systemtheorie ja gerade gezeigt. Das Undenkbare denken – ein Widerspruch in sich? Oder eine Herausforderung, kreative Katastrophenszenarien zu generieren? Vielleicht sollten wir anfangen, unsere fehlerhaften (zu einfachen) Modelle durch bessere, realitätsangemessenere Vorstellungen zu ersetzen, in denen Katastrophen als unvermeidbare Risiken vorkommen? Der Glaube, Risiken beherrschen zu können, sollte durch das Wissen von Katastrophen als normaler Bestandteil bestimmter Systeme ersetzt werden. Mit derartigen Katastrophen werden nicht nur wir, sondern auch unsere Nachkommen leben müssen – daher sind die Risiken von Atomkraft nicht mit denen anderer Technologien direkt vergleichbar. Der Umstieg auf erneuerbare Energien ist unvermeidlich, und zwar so schnell wie möglich!
Referenzen: Funke, J. (1992). Wissen über dynamische Systeme: Erwerb, Repräsentation und Anwendung. Berlin: Springer. – Perrow, C. (1992). Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik (2. Aufl.). Frankfurt/New York: Campus Verlag.