Am 3.2.2011 fand in der überfüllten Alten Aula unserer Alma Mater die diessemestrige Marsilius-Vorlesung von Gerd Gigerenzer zum Thema „Die Illusion der Gewissheit: Wie wir uns von Statistiken verwirren lassen“ statt. Musikalisch hübsch eingerahmt und abgeschlossen mit der Überreichung der Marsilius-Medaille als Auszeichnung für interdisziplinäre Forschung, hielt Gigerenzer ein engagiertes Plädoyer für die Aufklärung von Menschen über statistische Angaben, die sehr schnell missverstanden werden können.
Am Beispiel ärztlicher Diagnosen, finanzieller Investmententscheidungen oder medizinischer Vorsorgeuntersuchungen illustrierte er die Gefahr von Missverständnissen. In den vier Bereichen (a) Einzelfall-Wahrscheinlichkeiten („es regnet morgen mit 30% Wahrscheinlichkeit“), (b) relative Wahrscheinlichkeiten („das neue Medikament wirkt 50% besser als sein Vorgänger“) , (c) bedingte Wahrscheinlichkeiten („wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für Brustkrebs, gegeben ein positiver Mammographie-Befund?“) sowie Überlebensraten (eine 5-Jahres-Überlebensrate ist z.B. vom Zeitpunkt der Früherkennung abhängig, sog. „lead bias“) wurde sehr anschaulich vorgeführt, dass nicht nur Laien, sondern häufig auch Experten kein korrektes Verständnis der Aussagekraft solcher Angaben besitzen.
Die Gefahr, mit einem Flugzeug abzustürzen, sei z.B. ungefähr so groß, wie beim Autofahren auf einer Strecke von 20 Kilometern zu verunglücken, erklärte Gigerenzer. „Wenn der Reisende mit dem Auto zum Flughafen fährt, hat er also den gefährlichsten Teil schon hinter sich.“ Seine Forderung: besser informierte Mediziner, die ihre Patienten besser beraten können – aber auch besser geschulte Patienten, die sich durch Statistiken nicht ins Bockshorn jagen lassen und besser informierte Bankkunden, die ihren Finanzbereatern nicht allen Unsinn glauben, sondern nach den Informationen fragen, die Gigerenzer in sog. Fakt-Boxen zusammenstellt und die in klarer Form alle entscheidungsrelevanten Informationen präsentieren. Sein Vorschlag zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen und zur Verringerung der Bankenkrise: mehr Transparenz und Durchblick für alle! Geradezu Kantisch: Sapere aude, wage zu wissen! Lernt zu denken!
Im Anschluss an den öffentlichen Empfang in der Bel Etage des Rektors stand Gigerenzer einem kleineren Kreis aus aktuellen und ehemaligen Marsilius-Fellows im Marstall Rede und Antwort. Dabei machte er noch einmal deutlich, dass wir eigentlich bereits in der Schule bei 6-10jährigen Kindern anfangen sollten, ein Verständnis für Mengenverhältnisse aufzubauen und anstelle das fälschlichen Strebens nach Gewissheit den gelassenen Umgang mit Ungewissheit zu unterrichten.
Schließlich gab es noch beim abschließenden leckeren Nachtessen im Marstall-Festsaal für mich die Gelegenheit, bei einem guten Glas Pfälzer Wein nicht nur ein paar persönliche Worte zu wechseln, sondern auch weitere Forschungsschritte über die Identifikation von Heuristiken (z.B. Take the Best) bei komplexen Problemen zu diskutieren.
Eine wirklich schöne Veranstaltung, die einen weltweit sehr einflussreichen Psychologen zu Wort kommen und damit seine vom Geist der Aufklärung getragenen Ideen lebendig werden ließ – eine Veranstaltung, die dem Marsilius-Kolleg Ehre bereitet hat und die mir noch einmal gezeigt hat, wie stolz ich darauf sein kann, zur ersten Generation der Marsilius-Fellows gehört zu haben! Zugleich eine Aufforderung an uns Psychologen, mit unseren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit zu treten und nicht nur Laborexperimente durchzuführen, die zwar vielleicht die eigene Publikationsliste verlängern, aber kaum theoretischen Fortschritt und deswegen häufig gar keinen praktischen Nutzen liefern. Mein alter Leitsatz „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie!“ hat sich durch Gigerenzers Vortrag nochmal bestätigt.
Literaturempfehlung für interessierte Laien: „Das Einmaleins der Skepsis“
siehe RNZ-Bericht vom 7.2.11
siehe auch Harding-Zentrum für Risikokompetenz
siehe auch Marsilius-Vorlesung SS 2010: Jörg Widmann