In einer kürzlich (2009) erschienenen Arbeit von Rainer Holm-Hadulla, Frank-Hagen Hofmann, Michael Sperth und mir mit dem Titel „Psychische Beschwerden und Störungen von Studierenden. Vergleich von Feldstichproben mit Klienten und Patienten einer psychotherapeutischen Beratungsstelle“ (auf meiner Webseite „Publikationsliste“ downloadbar) werden aktuelle Daten über die psychische Belastung von Studierenden berichtet, die beunruhigend sind. Hier ein kleiner Ausschnitt:
Frühere Untersuchungsergebnisse, wonach 20–25% der Studierenden unter psychischen Störungen leiden, können auch aktuell bestätigt werden. Bei Klienten einer Beratungsstelle liegen mit 60–65% deutlich mehr klinisch relevante psychische Störungen vor. Als wesentliche Beschwerdebereiche ragen depressive Verstimmungen, mangelndes Selbstwertgefühl und Prüfungsängste heraus. … Der Vergleich mit früheren Studien zeigt, dass die Häufigkeiten psychischer Beschwerden in den letzten 15 Jahren konstant geblieben sind, bis auf eine Ausnahme: Prüfungsängste! Diese haben nach eigenen Studien zwischen 1993 und 2008 um 51% zugenommen. In Bezug auf Alkoholmissbrauch wurden deutlich geringere Beeinträchtigungen gefunden, als auf der Grundlage früherer Untersuchungen angenommen wurde.
Eine Zunahme der Prüfungsängste um 51% bei ansonsten stabil gebliebenen Störungsbildern: das ist happig! Und noch ein Ausschnitt zum Thema „verlorengegangene Freiräume“:
Zum Abschluss soll aus Sicht der Kreativitätsforschung der Besorgnis Ausdruck gegeben werden, dass in den heutigen Studiengängen (re-)kreative Freiräume verloren gehen könnten. Es kann vermutet werden, dass die gewachsene Anzahl an Studierenden mit Prüfungsangst zum Teil mit einem Übergewicht extrinsischer Motivationen – Ableisten von Pflichtveranstaltungen und Prüfungen, Konkurrenz zu Kommilitonen – zuungunsten einer Abnahme intrinsischer Motivationen – Neugier, Wissbegierde, autotelisches Interesse – zusammenhängt. Darunter leiden auch die Lehrenden. Mangelnde Freiräume zur Entwicklung und Realisierung intrinsischer Interessen können die akademische Laufbahn und die persönliche Entwicklung stark beeinträchtigen. Wir vermuten, dass die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge sowie die zunehmenden Pflichtveranstaltungen in Medizin, Jura und anderen Studiengängen für Schulabgänger, die selbstgesteuertes intellektuelles Arbeiten nicht gelernt haben, hilfreich sein können. Die genannte Formalisierung der Studiengänge führt nach eigener Erfahrung aber auch häufig zu einem Verlust an intrinsischer Motivation und Begeisterung für das Studium. Hierbei ist es – auch aus psychotherapeutischer Sicht – notwendig, bei der Konzipierung und Umsetzung von Studien- und Prüfungsordnungen an den Hochschulen ein ausgewogenes Maß zwischen Strukturierung einerseits und akademischer Freiheit andererseits zu realisieren.
Na also: Möge das ausgewogene Maß bald gefunden werden!
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